Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Schatten des Kreml

Im Schatten des Kreml

Titel: Im Schatten des Kreml Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren:
Vom Netzwerk:
schlägt gegen Matthews’ Schulter, als der Laster hüpft und schlingert wie ein Schiff in der rauen See. Unzählige Kurven später taucht ein Dorf vor uns auf. Die Flachdachbauten aus Holz oder Ziegelsteinen sehen aus wie die ausrangierten Bauklötze eines Kindes, fest im Schnee verwurzelt kleben sie am steilen Berghang. Ein Minarett erhebt sich aus dem schimmernden Weiß und ragt in den blassblauen Himmel empor – eine rostbraune Säule mit einer blanken Stahlkuppel, die im Sonnenlicht glänzt.
    Wir holpern am Dorfrand entlang, auf einem ausgetretenen Ochsenpfad, der an einer bunten Ansammlung aus Schuppen, Anbauten und Hütten vorbeiführt, aus denen scharenweise Leute kommen und neugierig gucken. Unsere Route zwingt uns weiter hinauf, bis wir oberhalb der Dorfmitte sind und auf Innenhöfe hinuntersehen, die so voll sind, dass sie überzuquellen scheinen: Hühner, Ziegen, Kühe, sogar eine klapprige Stute; überdachte Gärten mit Gestellen, an die sich vertrocknete Reben klammem; im Wind wehende Wäsche; Plumpsklo, aus denen krumme Entlüftungsrohre hervorstehen.
    Der Fahrer wirft einen unsicheren Blick zu mir nach hinten, als der Schrei des Muezzins durch die dünne Luft gellt, ein lyrischer Gesang, der Vergangenheit und Zukunft in einem beschwört. Unser Führer hebt die Hand und sagt in gutturalem Russisch: »Halt«. Er klettert hinaus und macht sich zum Gebet bereit, während der Rest von uns im Wagen sitzen bleibt, ungläubige Eindringlinge, die wir sind.
    Ein Esel trottet vorbei, seine langen Ohren hängen traurig herab; ich schicke meine Gedanken mit ihm auf Wanderschaft, durch ein Land, das vom Krieg geschändet ist, unter Menschen, die für alle Zeiten die Narben des Leidens tragen. Misshandelt von den Russen und noch grausamer von den eigenen Landsleuten, Männern wie dem angeberischen Briganten Khanzad, einem durchtriebenen Lügner, der heimtückisch von einer Seite zur anderen überläuft, um sein Bankkonto zu füllen.
    Und dann kommt mir ein anderes Bild in den Sinn, unaufgefordert und nicht sehr willkommen: Abreg, der undeutlich taumelnd über mir am Rand der Grube steht.
    Meine Finger kribbeln, und ich verstecke sie unter meinen Oberschenkeln, weil ich nicht will, dass Matthews sie zittern sieht, aber der ist mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Ich schaue hinüber zu Charlie. Sie ist jetzt wach, die Knie angezogen und die Arme darum geschlungen sitzt sie da und starrt auf die Plane wie auf eine Leinwand, auf der ein Film läuft, dem nur sie folgen kann.
    Fast habe ich ein bisschen Mitleid mit ihr, aber besondere Sympathien kann ich mir im Moment nicht erlauben. Abreg ist viel zu gerissen, als dass ich ihn bei einer direkten Konfrontation töten könnte. Ich muss ihn täuschen und irreführen. Ich brauche ein Trojanisches Pferd.

47
    Als das Gebet beendet ist, rollen wir fast noch eine Stunde lang weiter über tiefe Spurrinnen, bis unser Führer das Zeichen zum Halten gibt. Ein Junge auf einem zotteligen Pony kommt auf uns zu. Er scheint ungefähr vierzehn zu sein. Eine Seite seines Gesichts ist mit einem Netz von Narben überzogen. Er trägt eine AK-47 über der Schulter und einen Patronengurt, an dem Handgranaten klemmen.
    Er spricht mit unserem Führer in einem Dialekt, den ich nicht verstehe. Beide benutzen ihre Hände und zeigen und gestikulieren. Als sie fertig sind, reitet der Junge von hinten an den Laster heran, hebt die Plane hoch und inspiziert sorgfältig das Innere. Sein wachsamer Blick fällt auf Charlie, hält kurz inne und wandert dann weiter zu Matthews, der unerschrocken zurückstarrt. Dann wendet sich der Junge mir zu, sein Blick ist leer und gleichzeitig hart. Als er das Verdeck wieder fallen lässt, scheint die Temperatur um mehrere Grad gesunken zu sein.
    »Oh, Gott«, ruft Charlie aus.
    Der Laster ruckelt weiter im Zickzack die Serpentinen hinauf.
    Matthews zündet zwei Zigaretten an und bietet Charlie eine an. Ihre Hand zittert so sehr, dass sie Schwierigkeiten hat, sie an den Mund zu führen. Er redet ein paar Minuten lang leise mit ihr, dann nimmt er einen Handschuh ab und streichelt mit seiner knochigen Hand über ihr Haar, um sie zu beruhigen, und sie lehnt sich mit geschlossenen Augen an ihn. Senatorentochter, Mitglied der High Society, Teilzeitaktivistin – von allem, was sie bisher kennengelernt hat, ist sie in diesem Augenblick weit entfernt.
    Ein paar Minuten später zittert Charlie schon nicht mehr so sehr. Matthews murmelt noch einige besänftigende Worte

Weitere Kostenlose Bücher