Im Schatten des Kreml
Raumes kommt. Zu meiner Rechten steht ein langer Tisch mit flackernden Talglichtern und einer Öllampe. Eine Ansammlung seltsam geformter Flaschen, die meisten ohne Etikett, befindet sich auf dem Regal dahinter; das spärliche Licht bricht sich in den Flaschen und wirft goldene, silberne und blaue Strahlenbündel zurück. An den Wänden hängen dicke Wollteppiche.
Der Junge schubst mich, sodass ich ein paar Schritte nach vorn mache. Zu meiner Linken steht ein kniehoher runder Tisch, der mit dem Fell eines Turs, eines kaukasischen Steinbocks, bedeckt ist. Darauf erkenne ich eine Luger aus dem Zweiten Weltkrieg, ein Messer ohne Scheide und mehrere Teller mit Fleischstreifen und Fladenbrot.
Ein weiterer ungefähr vierzehnjähriger Junge, ohne Narben im Gesicht, aber unverkennbar der Zwillingsbruder von dem hinter mir, sitzt an der mir zugewandten Seite des Tisches. Auch er trägt ein grünes Stirnband. In seinem Schoß liegt eine AK-47. Neben ihm ein Mann, der ihm so ähnlich sieht, dass er der Vater der Zwillinge sein muss. Beide starren mich so hasserfüllt an, dass ich fast sicher bin, ihnen schon einmal begegnet zu sein, obwohl ich mich an keinen von ihnen erinnere. Vielleicht repräsentiere ich einfach all das, was sie an dieser Welt verabscheuen.
Zu meinen Füßen bewegt sich etwas – ein Mann in Armeekleidung liegt auf dem Rücken und trommelt mit den Absätzen auf den Holzfußboden. Seine Arme sind mit einem Seil am Körper festgezurrt. Eine durchsichtige Plastiktüte ist über seinen Kopf gestülpt wie ein riesiges Kondom. Er ist geknebelt. Um seine Nase herum hebt und senkt sich die Tüte, während er sich abmüht, durch ein bleistiftgroßes Loch zu atmen. Je tiefer er einatmet, desto enger klebt das Plastik an seinem Gesicht und blockiert die Luftzufuhr. Tief liegende, panische Augen rollen in seinem kreideweißen Gesicht. Niemand außer mir beachtet ihn.
Und dann auch ich nicht mehr, als plötzlich ein kalter Windstoß durch den Eingang bläst und die Lichter aufflackern. All meine Aufmerksamkeit gilt jetzt dem dritten Mann, den ich in der momentanen Helligkeit an dem niedrigen Tisch erkenne. Mein Blut kocht. Kampf oder Flucht?
»Die Spinne«, sagt Abreg, »muss nur warten, bis die Fliege zu ihr kommt.«
Er macht keinerlei Drohgebärden. Als der Wind nachlässt, wird auch das Kerzenlicht schwächer, aber ich sehe ihn trotzdem deutlich vor mir. Er trägt eine kittelartige, zu große Jacke, die unförmig an seinem Oberkörper hängt, außer am Rücken, wo sein Buckel den Stoff spannt. Dünne Handgelenke ragen aus den Ärmeln, seine Finger sind lang und merkwürdig gebogen, eine Hand hat er um denselben knorrigen Stock gelegt, auf den er sich auch stützte, als er über mir am Rand der Grube stand. Dunkles, struppiges Haar verbirgt sein Gesicht bis auf die Hakennase und die Augen, das rechte genauso schwarz funkelnd, wie ich es in Erinnerung habe.
Ich trete zwei Schritte vor und ergreife das auf dem Tisch liegende Messer. Abreg hebt die rechte Hand; niemand unternimmt etwas, um mich zu stoppen. Er beobachtet mich weiterhin, ausdruckslos, wobei seine Ruhe zweifellos daher rührt, dass der Junge hinter mir seine Kalaschnikow auf mich gerichtet hat. Aber er allein kann mich nicht daran hindern, Abreg zu töten. Das Einzige, was mich zurückhält, ist die Angst, er könnte, über Khanzad, Valja in seiner Gewalt haben.
Das Messer hat einen hohlen Griff mit einem eingesetzten Kompass. Er lässt sich abschrauben, sodass man Streichhölzer, Bindfaden und andere kleine überlebensnotwendige Werkzeuge darin aufbewahren kann. Abreg sieht mir gleichgültig zu, als ich mich neben den gefesselten Mann auf den Boden knie, dessen Körper von Drogen oder Unterernährung ausgemergelt ist, und die Plastiktüte aufschlitze, um das Atemloch zu vergrößern. Schniefend saugt er die Luft ein. Rotz läuft aus seiner Nase, als er sie für den nächsten Atemzug frei macht. Während die anderen ihn unbeeindruckt mustern, offenbar aber doch neugierig, ob er überlebt oder nicht, lasse ich das Messer in meiner Manteltasche verschwinden und stehe auf.
Der Junge und sein Vater blicken auf und gucken mich an wie ein Hungriger ein Schwein am Spieß. Abreg wartet geduldig auf meine Antwort, mit demselben gelassenen Gesichtsausdruck wie beim letzten Mal, als er mich in seinen Fängen hatte.
»Manchmal«, wende ich mich an ihn, »ist die Fliege keine Fliege, und die Spinne stirbt.«
Während ich das sage, sehe ich ihm fest in sein
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