Im Schatten des Kreml
und kommt dann zu mir herüber, eine Hand am Metallrahmen über ihm abstützend, um das Gleichgewicht zu halten. Ich spreche leise, damit sie mich nicht hört.
»Der ganze Kram, den du mir über Charlie und Jemaah Islamiyah und Ravi Kho erzählt hast, war Mist. Ravi war vom chinesischen Geheimdienst.« Der Gedanke kommt mir, da mir Charlies Anblick deutlich macht, wie naiv sie in Wirklichkeit ist. Sie trauert um einen Mann, der sie fast genauso benutzt hat, wie wir es tun.
Matthews lässt den Kopf zurück gegen das Segeltuch sinken und schließt die Augen. »Okay, Ravi hat für die Sechste Behörde gearbeitet. Sie hat davon immer noch keine Ahnung. Sie glaubt, dass Lachek ihn wegen des Videos umgelegt hat; das kann durchaus mit ein Grund gewesen sein, weil Ravi Khanzad und das Video benutzt hat, um Lachek zu erpressen, aber Tatsache ist, dass Lachek eine Menge Gründe hatte, ihn zu töten. Die beiden haben eine gemeinsame Geschichte.«
Wir schweigen ein paar Kilometer lang und wiegen uns im Rhythmus der Fahrt, aber Matthews wirkt immer noch zappelig. Schließlich gibt er den Kampf um etwas Schlaf auf, zündet sich noch eine Zigarette an und saugt gierig daran.
»Das ist ein Gesellschaftsproblem, Volk«, sagt er beim Ausatmen. »Dasselbe wie in Afghanistan und im Irak. Dieses Kind eben wird nie etwas anderes kennenlernen als zu kämpfen und zu hassen. Und wenn sich nicht bald etwas ändert, wird es seinen Kindern später genauso ergehen. Und sie werden nicht mal wissen, warum.«
Ich erinnere mich, ähnliche Gedanken in Maschas Wohnung gehabt zu haben. Wie lange ist das jetzt her? Vier Tage, nehme ich an. Vielleicht fünf. Die Stunden im Loch in der Lubjanka haben mein Zeitgefühl durcheinandergebracht. Ich habe Valja nicht erreichen können, um sie vor Khanzad zu warnen, und jetzt ist es ohnehin zu spät. Entweder hat er sie oder er hat sie nicht. Ich bin krank vor Sorge.
»Das ist nichts Neues«, entgegne ich. »Die Bergbewohner sind es seit tausend Jahren gewohnt zu kämpfen.«
Noch als ich die Worte ausspreche, merke ich, dass das nicht der Punkt ist. Die Kinder der tschetschenischen Kriege sind Flüchtlinge in ihrem eigenen Land. Sie repräsentieren den Beginn eines neuen Zyklus, nicht die Fortdauer dessen, was vor langer Zeit begann. Es ist eine Abwärtsspirale, die kein Ende nehmen wird, solange nicht etwas wirklich Umwälzendes sie unterbricht.
»Vielleicht machen uns deswegen ein paar Jäger und Sammler die Hölle heiß«, sagt Matthews und drückt seine Kippe auf dem Stahlblech unter unseren Füßen aus.
Eine Stunde später, im Halbdunkel der Abenddämmerung, kommt der Laster vor einem verfallenen Bauwerk zum Stehen, das von außen aussieht wie eine große Baracke. Das schlichte Gebäude steht auf einem Fundament aus grauen, in regelmäßigen Abständen geschichteten Steinhaufen, sodass ein Teil der Kälte nach unten hin abgeleitet wird. Ein erhöhter Vorbau mit einem Lamellendach, dessen Blech von Eis überzogen ist, führt zu einem mit Tierfellen verhängten Eingang. Über gewölbte Planken gelangt man trockenen Fußes durch den Matsch zu anderen verwahrlosten graubraunen Hütten, die alle leichte Schlagseite haben und deren Balken nach und nach einzustürzen drohen.
Als der Motor ausgeht, ersetzt eine unheimliche Stille das vorherige Getöse und das endlose Geknatter, das hinter uns liegt. Dann erfüllen allmählich andere Geräusche den Abend – gackernde Hühner, ein bellender Hund, ein vom Wind bewegtes Stück Metall, das gegen Holz schlägt. Die Luft draußen ist bitterkalt. Die Zeit, die wir für die Serpentinen gebraucht haben, war irreführend, wir sind nur etwa zehn Kilometer in östlicher Richtung oberhalb des Ortes, der teilweise durch die nackten Zweige zwischen zwei Felsvorsprüngen zu erkennen ist. Wir strecken uns und versuchen, nach der langen Fahrt unsere Orientierung wiederzugewinnen, als der vernarbte Junge auf seinem Pony langsam um das Haus getrabt kommt. Seine AK-47 liegt locker über dem Sattel. Ihm folgt ein hagerer alter Mann mit dünnem Bart auf einem räudigen Pferd.
»Ihr geht mit Yusup«, befiehlt uns der Junge auf Russisch. »Alle außer dir.« Sein unergründlicher Blick landet auf mir. Der Lauf seines Gewehrs richtet sich wie von selbst auf meine Brust.
»Das war nicht abgemacht, Volk«, flüstert Matthews, sodass Charlie ihn nicht hören kann. »Die haben versprochen, dass wir zusammenbleiben.«
Unser Fahrer, der sich eben noch entspannt gegen den Kotflügel
Weitere Kostenlose Bücher