Im Schatten des Kreml
Tindi besteht aus kaum mehr als zwei Spurrinnen, die am Fuß der hohen Berge entlangkriechen – Allahs Berge, zerklüftete Gipfel und steile Täler im tiefen Schatten der Morgensonne. Die hier lebenden Gebirgsbewohner, gortsy genannt, repräsentieren einen bunten Schmelztiegel, mit einem Gewirr vielfältiger Sprachen, doch vereint durch tausend Jahre Kriegskultur. Der Laster, der uns am Abend zuvor in Chankala zugeteilt wurde, einer Militärbasis im Osten von Grosny, ist ein sechsrädriger Ural-4324-49 in den Tarnfarben Grau und Grün. Zwölf Tonnen ächzendes Metall, an einigen Stellen geflickt und mit Korrosionsschutz lackiert, an anderen verrostet. Er bahnt sich seinen Weg durch den Nebel, der überall um uns herum dicht über dem Boden hängt.
Hinten sind ein paar Bänke mit wenigen Überresten von Schaumstoffpolstern in einen gerillten Stahlboden geschraubt, auf dem Matthews zu meinen Füßen eingeschlafen ist und halb über einem rostfarbenen Fleck liegt, der getrocknetes Blut sein könnte. Die über einen Metallrahmen gespannte Segeltuchplane hält die beißende Kälte kein bisschen ab. Charlie kauert zitternd unter dreckigen Armeedecken auf der Bank mir gegenüber, an einen Kanister gelehnt, in dem Reserve-Diesel hin und her schwappt.
Durch ein Loch in der Rückseite der Fahrerkabine sehen wir durch die verschmierte Windschutzscheibe auf das düstere Massiv des Kaukasus. Unser Fahrer ist ein drahtiger Russe aus Nasran mit einer erkalteten Pfeife zwischen den Zähnen. Er trägt eine Mütze mit dem Aufdruck eines Pirol. Neben ihm sitzt unser Führer, ein bärtiger Bergbewohner mit einer Astrachanmütze mit Ohrenklappen und einem Soldatenmantel; die Schulterklappen des Vorbesitzers hat er abgerissen.
Nach drei Stunden Fahrt verlassen wir das Flachland und erreichen die ersten Gebirgsausläufer. Ein Gipfel nach dem anderen taucht vor uns auf und fällt dann hinter uns zurück, während wir uns Serpentinen hochschlängeln, die so eng sind, dass der Fahrer teilweise in einen niedrigeren Gang schalten muss. Eichen, Buchen, Birken und Kiefern gehen allmählich über in nackte Felsen und Gestrüpp, und immer noch winden wir uns aufwärts in einem Nebel von Auspuffgasen, der einem das Wasser in die Augen treibt. Mit Schnee bedeckte Stellen füllen die Lücken zwischen den spärlicher werdenden Bäumen.
Der Motor hustet, setzt ein paar Takte aus und heult dann auf, als der Fahrer wieder herunterschaltet, um sich eine besonders steile Strecke emporzukämpfen. Eisiger Wind bläst gegen das Verdeck, und das Gelände wird allmählich weißer, der Schnee breitet sich aus wie ein langsam zerfließender Fleck. Ein paar Kurven später hängen wir inmitten dichter Wolken, als wären mit einem Mal die Vorhänge zugezogen worden, und die Welt um uns herum scheint zu verschwinden.
Zehn Stunden sind vergangen, seit Matthews und ich Maxim verlassen haben. Wir fuhren ins Café, um meine Sachen zu holen, nahmen bei der amerikanischen Botschaft einen Wagen und rasten zum Luftwaffenstützpunkt Schukowski. Charlie war schon da, so wie Abreg es verlangt hatte. Wir flogen mit einer Il-76 – Transportmaschine der Einundsechzigsten Luftwaffe nach Budennowsk, eine Stadt in der Region Stawropol im Süden Russlands, die vor allem dafür bekannt ist, dass tschetschenische Rebellen Polizei und Verwaltungsgebäude stürmten und mehr als tausendfünfhundert Geiseln im Krankenhaus gefangen hielten. Sechs Tage später wurde ein Waffenstillstand vereinbart – eine Kapitulation, wie es sie in der Geschichte des sowjetischen Staates und der Russischen Föderation noch nicht gegeben hatte – , und die Terroristen durften abziehen. Der erste tschetschenische Krieg endete mit einem Friedensabkommen, das im August 1996 in Chassawjurt unterzeichnet wurde, ein Name, der von da an Russlands Schwäche symbolisierte, jedenfalls in den Augen vieler Kreml-Angehöriger.
In Budennowsk wechselten wir in einen Mi-8-Hub-schrauber und sahen durch alte Einschusslöcher den Boden unter unseren Füßen vorbeiziehen, winzige Ausschnitte einer fließenden braunen Landschaft auf dem Weg nach Chankala. Dort stiegen wir nach einer Portion Hammel mit Reis in unseren sechsrädrigen Laster und fuhren Richtung Südosten, vorbei an Wedeno, Geburtsort vieler Terroristen und eine wichtige Schnittstelle im Krieg um Tschetschenien; irgendwann ging es dann hinein in die Berge und in die nassen Wolken.
Der Vormittag geht in den Nachmittag über. Charlie schläft ein, ihr Kopf
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