Im Schatten des Kreml
geformt ist.
Semerkos Schwester ist mindestens zehn Jahre älter als er. Als er geboren wurde, muss sie ein junges Mädchen gewesen sein, wahrscheinlich kurz vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch der Sowjetunion. Aber die Jahre, die inzwischen vergangen sind, haben ihr Gutes gebracht, und jetzt trennt sie mehr als das Alter von ihrem Bruder, der arm genug war, um in die Armee eingezogen zu werden.
»Meine Mutter darf hier keinen Besuch empfangen«, begrüßt sie Mascha kühl, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen.
Der Parkettboden unter ihren Füßen ähnelt in seiner Farbe flüssigem Gold und reicht durch eine Schwingtür bis ins Wohnzimmer. Auf unserer Seite geht eine Tür ab zu einer Gästetoilette; von irgendwoher weit hinten in der Wohnung hört man Töpfe zusammenstoßen. Mascha und zehn von ihren Freunden könnten ein Jahr lang von dem leben, was diese Wohnung jeden Monat an Miete kostet.
»Wir würden sie jetzt gern sehen.« Ich spreche ruhig und leise, in einem Ton, den sie sicherlich einzuschätzen weiß. Diese Frau versteht Männer wie mich. Ich würde sogar wetten, dass ihr Mann aus ähnlichem Holz geschnitzt ist, denn wer im neuen Russland so viel Geld besitzt, muss es mit Gewalt verdient haben.
Sie beachtet mich immer noch nicht, Stattdessen spannt sie ihr maskenhaft geschminktes Gesicht an und gibt uns ein Zeichen, ihr zu folgen. Sie klackert über den goldenen Boden durch den Flur zu einem Zimmer weiter hinten, das einmal als begehbarer Wandschrank konzipiert war. »Zehn Minuten. Danach rufe ich den Sicherheitsdienst.«
In der Kammer befinden sich ein Doppelbett, ein Nachttisch mit einer Schirmlampe, von der die goldene Farbe abblättert, und eine Frau mit dem Gesicht eines Raubvogels, die auf einen tragbaren Fernseher starrt. Als Irina Mascha keinen Platz anbietet, schiebe ich die Bettdecke ein Stück beiseite, damit sie sich hinsetzen kann. Nachdem sie Platz genommen hat, wende ich mich wieder Irina zu, die versucht, an mir vorbei auf den Bildschirm zu sehen.
»Mein Name ist Volk.«
»Er ist ein Freund von mir«, sagt Mascha. »Er hat ein paar Fragen zu Semerko und Galina.«
»Semerko hatte nichts mit dem Mädchen zu tun.« Irinas Stimme ist kalt wie die ihrer Tochter, aber eher bockig als eingebildet. Als der Name ihres Sohnes fällt, schaut sich mich endlich richtig an, die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengekniffen.
»Wo ist er?«, frage ich.
»Wer weiß, wo er hin ist? In den Süden vielleicht, zurück in die Berge. Nicht mal die Polizei findet ihn.«
»Hat er ein Telefon?«
Sie sieht mich lange an und kaut dabei abwesend auf einem gelben Fingernagel. »Sind Sie beim Militär?«
»Ich war es. Warum?«
»Bei der Armee hat er den Teufel getroffen, Heroin. Aus ihm ist ein Nichts geworden. Vielleicht ist er schon tot.« Speichel tropft ihr aus dem Mundwinkel.
»Haben Sie eine Telefonnummer? Eine Adresse?«
»Nein. Ich will ihn nicht sehen. Er ist einer von denen geworden, die dieses Land hassen. Ein Ignorant.«
»Er weiß, was Krieg ist.«
Sie tut so, als hätte sie mich nicht gehört. Ihre Zunge schlängelt sich heraus wie eine graue Raupe und leckt sich über den abgekauten Nagel. Neben dieser herzlosen Frau zu stehen, die ihr eigenes Kind schlechtredet, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren.
»Was hat er bei der Armee gemacht?«, frage ich, vor allem, damit sie weiterredet.
»Glauben Sie, so etwas weiß ich?« Zum Glück verschwindet ihre Zunge, wenn sie spricht. »Erst haben sie ihn geschlagen, dann haben sie ihn nach Tschetschenien geschickt und ein Tier aus ihm gemacht. Was er dort getan hat, geht mich nichts an.«
»Er ist immer noch dein Sohn«, sagt Mascha leise.
Irina wendet sich leicht zur Seite und wischt ihren nassen Daumen an der Decke ab, aber sie antwortet nicht.
»Hat er irgendetwas hiergelassen?«, erkundige ich mich.
Erst scheint sie wütend zu werden, aber dann beugt sie sich gierig vor, die Augen scharf wie die eines Raubvogels. »Wie viel?«
»Wofür?«
»Für einen Blick in seine Truhe.«
Ich hole ein Bündel Rubelscheine aus der Jackentasche. Zähle dreitausend ab, etwas mehr als hundert Dollar, und breite sie fächerförmig vor ihr aus. Sie greift nach dem Geld, aber ich ziehe es so schnell wieder weg, dass sie fast vornüberfällt.
»Wo?«
»Im Keller, in einem Lagerraum mit derselben Nummer wie die Wohnung. Die Kombination des Schlosses weiß ich nicht.«
Als wir gehen, stopft sie die Handvoll Banknoten eilig in ein Loch
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