Im Schatten des Kreml
mehr erleben werde.«
Insgeheim bin ich ihrer Meinung. Die Unvereinbarkeit der Kulturen geht zu weit und zu tief, beide Seiten sind getrieben von einer verzerrten Sicht auf den jeweiligen Gott, den sie angeblich anbeten. Die Welt hat sich an die neue Ordnung gewöhnt, und ein paar gerissene Ausbeuter haben einen Weg gefunden, sich an dem Chaos zu bereichern.
Das schrille Kreischen des Kessels schreckt mich auf. Mascha gießt etwas von dem kochenden Wasser zu dem Pulver und macht daraus eine Paste, die sie auf die Wunden in meinem Gesicht aufträgt. Sie haben eigentlich schon mehr als eine Wochenration an Salbe abbekommen, aber es fällt mir nicht im Traum ein, Mascha aufzuhalten.
Als sie fertig ist, setzt sie sich auf den Bettrand, wickelt sich die Decke um die Beine und fängt an zu stricken. Die Nadeln klicken mal mehr, mal weniger synchron zum Ticken der Uhr auf dem Nachtisch neben ihr.
»Meine Freundin hat eine Enkelin«, sagt sie. »Galina. Ein süßes Mädchen, ganze zwölf Jahre alt. Immer am Lachen...«
Die Nadeln halten inne, und ihre Stimme verhallt. Ohne aufzusehen, legt sie die mit Altersflecken übersäten Hände in den Schoß.
»Galina ist seit fast einer Woche verschwunden.«
»Ist sie weggelaufen?«
Sie schüttelt energisch den Kopf. »Nein. Angeblich wurde vor einem Monat die Leiche eines anderen vermissten Mädchens gefunden. Erwürgt und... missbraucht. Meine Freundin hat schreckliche Angst. Sie sagt, bevor Galina verschwand, sei ein Junge aus ihrer ehemaligen Nachbarschaft vorbeigekommen. Sein Name ist Semerko. Er war bis vor Kurzem Soldat.«
»Was ist mit der Polizei?«
»Sie haben weder Galina noch Semerko gefunden.«
»Was kann ich tun, was sie nicht tun können?«
»Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll«, erwidert sie leise. »Ich habe meiner Freundin erzählt, dass ich jemanden kenne, der Dinge kann, die andere nicht können. Er verstößt vielleicht gegen das Gesetz – vielleicht auch gegen mehr als nur das Gesetz aber wenn er sagt, dass er hilft, dann tut er es auch.«
Das ist das erste Mal, dass Mascha offen zugibt, zu wissen, was für eine Art Mensch ich bin.
»Solche Geschichten enden in der Regel übel. Wenn Semerko sie vor einer Woche mitgenommen hat, dann ist es vermutlich vorbei mit ihr.«
Ich wollte nicht, dass es so hart klingt. Aber ich habe keine Zeit für Märchen, und ich kann mir schon die traurige Szene vorstellen, wie ich der Familie des Mädchens eine schöngefärbte Version der Wahrheit erzähle und all ihre Hoffnungen zunichtemache.
Maschas blaue Augen sind feucht. »Glaubst du, ich weiß nicht, dass sie wahrscheinlich schon tot ist?«
Ich fühle mich klein genug, um unter der Tür durchzukriechen. Ich will etwas sagen, aber Mascha beugt sich wieder über ihre Strickarbeit, und ich halte den Mund. Wenn ich zurückdenke, wird mir bewusst, dass ich mich, seit Valja weg ist, auf eine Art ausgeklinkt habe, wie es nie zuvor der Fall war. Selbst in Tschetschenien konnte ich Räuber und Beute unterscheiden und mich dementsprechend verhalten; meine Bereitschaft, denen zu helfen, die es wert waren, war einer der Gründe, die mich und Valja zusammengeführt haben.
Ich merke, wie Mascha mir die Emotionen aus dem Gesicht abliest. Sie zeigt mit der Nadel auf das Regal hinter mir. »Ich habe Bilder, die dir vielleicht bei deiner Entscheidung helfen.«
Zwei ungerahmte Fotos liegen flach im Regal. Ich greife nach ihnen und nehme sie in die Hand. Auf dem ersten sieht man eine alte, in mehrere Decken gewickelte Frau in einem Schaukelstuhl. Die Haut in ihrem Gesicht bildet tiefe Furchen, und ihr weißes Haar ist so dünn, dass der gesprenkelte braune Schädel darunter deutlich zu sehen ist. Hinter ihr ragt ein Schrein auf einem weiß gestrichenen Bord hervor. Schmale Kirchenkerzen stehen an beiden Enden des Bretts im eigenen Wachs. Dazwischen umrahmen Plastikblumen anscheinend dasselbe Foto, das ich neben diesem in der Hand halte: ein hübsches Mädchen, das kokett über die Schulter guckt, was sie noch jünger aussehen lässt.
Galina hat haselnussfarbene lachende Augen, lockiges braunes Haar und dünne Klein-Mädchen-Beine, die unter ihrem gepunkteten Glockenrock herausgucken. Sie hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit Valja – weder mit der erwachsenen Valja noch mit meiner Vorstellung von ihr als Kind. Galina ist die zartbraune Unschuld verglichen mit Valjas rauchig-weißem Glanz. Und trotzdem muss ich sofort an sie denken.
Ich schließe die Augen
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