Im Schatten des Kreml
auf der Rückseite ihrer Matratze, um sie vor ihrer Tochter zu verstecken. Das Dienstmädchen begleitet uns zum Fahrstuhl. Mascha zittert auf der Fahrt nach unten, und ich denke, sie friert, und will ihr meine Jacke geben, aber sie schüttelt den Kopf. »Das ist es nicht«, sagt sie.
Die Türen öffnen sich mit einem Klingeln, und wir treten auf rissigen Betonboden, auf dem sich stellenweise ölige Pfützen gebildet haben. Die Luft ist kalt und muffig. Auf der einen Seite stehen Maschinenteile, geschützt durch einen bis zur Decke reichenden Maschendrahtzaun, dessen Tür mit einem Zahlenvorhängeschloss gesichert ist. Ähnliche Schlösser hängen an den Haken der etwa ein Dutzend Türen auf der anderen Seite.
Nachdem ich die richtige Tür gefunden habe, bestätigt mir ein kurzer Hieb, dass sie nicht massiv ist, also trete ich sie auf, ohne mich groß um das Schloss zu kümmern. Drinnen befinden sich verstaubte Pappkartons, ein kaputter Stuhl, ein Kinderfahrrad und stapelweise eingeschweißte weiße Schachteln mit dem Logo eines deutschen Computerchip-Herstellers. Jetzt weiß ich, womit Irinas Schwiegersohn unter anderem sein Geld macht. Ganz hinten steht eine Metalltruhe, ebenfalls verschlossen, aber mit meinem Messer leicht aufzubrechen.
In der Truhe liegen vergilbte Unterwäsche, zerrissene Jeans, Khakihosen, ein ausgefranster Pullover, vier Hemden und mehrere bedruckte T-Shirts, sowie ein fleece-gefütterter Parka, alles ordentlich zusammengefaltet. Ein Schuhkarton mit japanischen Tauschkarten, auf denen Comic-Actionfiguren abgebildet sind, und drei Pornoheften markiert den Übergang vom Kind zum Teenager. Zwei mit Eselsohren versehene Taschenbücher, Tolstois Haddschi Murat und Pasternaks Doktor Schiwago, fallen neben mehreren Musik-CDs lose vom Karton.
»Wir sind Grabräuber«, flüstert Mascha.
»Glaubst du, Semerko ist tot?«
»Nein. Aber der Junge, dem diese Sachen gehörten.«
In der hintersten Ecke der Truhe entdecke ich ein kurzes Stück Seil, orange mit schwarzen Streifen. Ich lasse es in der Luft baumeln und durch meine halb geschlossene Hand gleiten. Es fühlt sich seidig weich an. Als ich die Hand schließe und das Seil festhalte, spannt es sich fast unmerklich. Es ist etwas länger als einen Meter, vielleicht zehn Millimeter dick und an beiden Ende sauber abgeschnitten. Ich rolle es zu einem engen Ring zusammen und stecke es in die Jackentasche.
Unter dem Seil liegt ein Hochglanzmagazin für Bergsteiger. Ein Blatt ist mit einer gelben Büroklammer markiert. Auf der einen Seite ist ein Bergsteiger in modernster Ausrüstung abgebildet, alles über Mailorder bestellbar. Auf der anderen Seite ist ein Foto von einem mit Schnee bedeckten dagestanischen Bergdorf. Ein Haufen Holz – und Backsteinhäuser, scheinbar wahllos zusammengewürfelt, gruppieren sich zu Füßen eines säulenförmigen Minaretts. Das ganze Dorf macht einen Eindruck der Verlorenheit und kauert sich zwischen enorm hohe Gipfel und steil abfallende Täler. Unter dem Bild steht sein Name, Tindi. Ich reiße die Seite heraus, falte sie zusammen und stecke sie in die Innentasche meiner Jacke.
Der Fahrstuhl geht auf, und Semerkos Schwester kommt in den Keller gerauscht, gefolgt von einem Wachmann.
»Rühren Sie das nicht an!«
Ich stöbere weiter und finde einen Artikel aus der Novaya Gazeta – den ich unbemerkt in meine Jackentasche zu der Seite aus dem Hochglanzmagazin schiebe – und ein Porträt in einem billigen Metallrahmen, der an einer Ecke bereits auseinanderbricht. Das Foto zeigt einen jungen Mann auf einem Bahnsteig, mit Uniform und unsicherem Lächeln, in dem gleichzeitig auch eine Spur von Stolz aufscheint. Er ist halb von der Kamera abgewandt und bemüht sich, strammzustehen, wie er es gerade erst gelernt hat. Ich werfe einen letzten Blick in die Truhe und denke, dass Mascha recht hat. Der Junge, der diese Dinge aufbewahrt hat, existiert nicht mehr. Außerdem glaube ich; dass die Mutter, die das Andenken an ihren Sohn an diesem versteckten Ort verschlossen hat, einen Teil der Verantwortung für die Sünden des Mannes trägt, der aus ihm geworden ist.
»Ich habe gesagt, Sie sollen meine Sachen nicht anrühren!«
Ich rolle die Zeitschrift zusammen, drehe mich zu den beiden um und schiebe Mascha hinter mich. Der Wachmann wirkt auf mich wie eine schlechte Kopie des pavianartigen Kommandanten: dieselbe Boshaftigkeit, aber nicht clever genug, eine lukrative Karriere daraus zu machen.
»Wann war Ihr Bruder zum letzten Mal
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