Im Schatten des Kreml
hier?«, frage ich.
Semerkos Schwester verengt die Augen. »Verschwinden Sie!«
»Beantworten Sie meine Frage.«
Ohne den Sicherheitsmann anzusehen, befiehlt sie: »Nehmen Sie sie fest!«
Er zieht seinen Schlagstock, zerkratzt und verbeult vom vielen Gebrauch, und lässt ihn erwartungsvoll lächelnd rotieren, während er einen Schritt auf uns zu macht. Er öffnet den Mund, als wolle er mich warnen, und schwingt dann plötzlich den Stock in weitem Bogen auf meinen Kopf zu. Ich stürze in seine Bewegung hinein und ramme ihm die eng zusammengerollte Zeitschrift gegen den Adamsapfel. Der Stoß lässt ihn das Gleichgewicht verlieren. Er knallt rückwärts auf den Boden, und der Schlagstock schlittert klappernd hinter mich. Wie gelähmt liegt er mehrere Sekunden da, das Gesicht blau angelaufen, die Augen seltsam verdreht. Dann fasst er sich an den Hals und schnappt nach Luft.
Semerkos Schwester starrt auf ihn hinunter. Ich sehe nur noch ihre leuchtend rote Helmfrisur vor mir.
»Wann war Semerko zum letzten Mal hier?«
Sie hebt ihren bitteren Blick und sieht mir in die Augen. »Glauben Sie vielleicht, ich will Semerko schützen? Vor acht Tagen. Da habe ich ihn zum letzten Mal gesehen. Ich habe nicht die geringste Idee, wohin er wollte. Und jetzt gehen Sie!«
Ich bitte Mascha um ihr Feuerzeug und erkläre ihr, sie solle im Eingangsbereich auf mich warten. Sie nickt und geht langsam an der Schwester vorbei und um den Wachmann herum, der jetzt wie ein Fötus daliegt, beide Hände an seinem Hals; aber er scheint noch zu atmen.
Als sich die Fahrstuhltür schließt, hole ich die eingeschweißten Schachteln aus dem Kellerraum und staple sie auf dem nassen Betonboden.
»Was machen Sie da?« Das Botox hat das Gesicht von Irinas Tochter in eine starre Maske verwandelt, aber die Angst ist ihr deutlich anzusehen.
Ich werfe Semerkos Klamotten über die Schachteln, zünde eines seiner T-Shirts an und halte es am Ärmel von mir weg. Ihr Gesicht wird aschfahl.
»Halt! Warten Sie!«
Ich werfe das brennende T-Shirt auf den Haufen. Das Ganze fängt an zu schwelen. Braun umrandete Löcher bilden sich auf dem Plastik, in das die Schachteln eingeschweißt sind.
»Ich habe eine alte Adresse! Machen Sie das Feuer aus, dann gebe ich sie Ihnen.« Sie zieht einen zerknitterten Umschlag aus der Tasche und hält ihn mir hin.
Eine dicke Rauchwolke steigt auf, als die erste Flamme auf einen der Kartons übergreift und aufflammt.
»Machatschkala!«, sagt sie und schleudert mir den Umschlag entgegen. Er flattert neben meinen Füßen zu Boden.
Ich hebe ihn auf und wende ihn in den Händen. Er ist leer und so schmutzig, dass er wohl tatsächlich mit der Post unterwegs war; als Absender steht eine Adresse in Machatschkala unten in der Ecke. Ich glaube nicht, dass sie lügt, jetzt jedenfalls nicht mehr. Machatschkala ist die Hauptstadt von Dagestan, was zu dem Foto von Tindi passt. Ich schiebe sie mit der Schulter zur Seite und gehe durch die Metalltür ins Treppenhaus, gerade als der Sprinkler sich in Gang setzt und die Alarmanlage zu jaulen anfängt. Bevor die Tür hinter mir zuschwingt, sehe ich, wie sie verzweifelt die brennenden Kleider wegreißt, und versucht, von der Schmuggelware zu retten, was sie kann.
Mascha schweigt auf dem Weg zurück zur Metro. Ich helfe ihr die Stufen hinunter, und als wir in der Bahn sitzen, legt sie den Kopf gegen meine Brust. Während wir über die Gleise ruckein, hole ich den Zeitungsausschnitt hervor. Der Artikel ist vom dreizehnten Oktober und damit fast drei Monate alt. Er handelt von einem Feuer im äußeren Westen der Stadt, in der Nähe des Victoria Parks. Ein ehemaliger Oberst der russischen Armee und sein zweijähriger Sohn wurden getötet. Man hatte fehlerhafte Stromleitungen für die Tragödie verantwortlich gemacht. Ich könnte Golko bitten, die Unterlagen zu überprüfen, aber ich weiß auch so, dass der Tote Semerkos ehemaliger Vorgesetzter war und wahrscheinlich zur Dedowschtschina gegen den jungen Rekruten aufgerufen hatte.
Der Zug wird langsamer. Mascha presst sich mit gesenktem Kopf an mich. Alles, was ich von ihr sehe, ist ihr rotes Kopftuch.
»Als Nächstes sprichst du mit der Polizei im dreißigsten Bezirk«, sagt sie entschieden.
»Nachher«, verspreche ich, und da fällt mir ein, dass das AMERCO-Gebäude im dreißigsten Bezirk liegt, und dass der rotgesichtige Inspektor Barokov mir noch einen Gefallen schuldet.
15
Der NSA-Mann Brock Matthews erwartet mich, als ich nachmittags
Weitere Kostenlose Bücher