Im Schatten des Kreml
die anderen Gäste schweifen. »Eine wunderhübsche junge Frau mit einem Hinkebein. Wir haben versucht, herauszufinden, ob sie auf der richtigen Seite ist. Wer zum Teufel kann an einem Ort wie Grosny schon einen Terroristen von einem Zivilisten unterscheiden?«
Die Angst um Valja schnürt mir die Kehle zu.
Er schenkt sich ein Glas ein, hebt es mir entgegen und stürzt es hinunter. In einem Zug, wie ein Russe. Ohne Grimasse. Er lässt die Flasche wieder in den Kübel gleiten, knallt das leere Glas auf den Tisch, wirft sich eine Olive wie eine Erdnuss in den Mund und kaut grinsend darauf herum.
»Wir werden diese Frage relativ bald beantworten müssen. Ist sie eine Terroristin? Ein kompliziertes Land, dieses Tschetschenien. Teufel, die ganze Welt ist kompliziert heutzutage. So wie du im AMERCO-Gebäude haben wir manchmal das Gefühl, dass es besser ist, erst zu schießen und sich danach um Wahrheit und Gerechtigkeit zu kümmern.«
Mein Blut ist kälter als das Eiswasser im Kübel. Matthews sieht mich mit seinem Pferdelächeln an und wartet.
»Ich höre mich um wegen der Senatorentochter. Wie ist ihr Name?«
»Charlene Thomas«, erwidert er. »Jeder nennt sie Charlie.«
17
Als Matthews weg ist, gehe ich hinunter in mein Kellerbüro und lasse mich in einen Stuhl fallen. Bilder von Valja tauchen vor meinem inneren Auge auf, zu viele, um sie festzuhalten. Eine Porzellanpuppen-Zarin mit weißem Haar und großen Augen, so geschmeidig und so voller Energie, dass sie, selbst wenn sie stillsteht, in Bewegung zu sein scheint.
Und dann bricht eine Erinnerung hervor, einem quälenden Schmerz gleich. Vor einer grobkörnigen Dunkelheit hebt sich weißglühend Valjas Silhouette ab, die mit beiden Händen die Kalaschnikow hochhält, im blendenden Licht erstarrt wie ein Leopard im Sprung.
»Ihr seid alle tot!«
Noch heute, vier Jahre danach, bringt die Erinnerung mein Herz zum Rasen.
Ich hole das Lachek-Dossier aus meinem Zimmer und schreibe auf der Rückseite des ersten Blatts ein paar Namen untereinander, mit jeweils viel Abstand dazwischen: Starye Atagi, Ivaschko. Dubinin/Ei, Melnik, Khanzad. Nachdem ich sie eine Weile betrachtet habe, ergänze ich darunter Abreg? .
Dann ziehe ich eine Linie, mache eine zweite Spalte auf und notiere AMERCO, Lachek, Kombi-Oil, Marko Hutsul. Ich zögere kurz und füge Matthews/Charlie/Ravi hinzu. Ich unterstreiche den Namen Charlie und verbinde ihn mit Starye Atagi , schließlich hatte sie den Ort am Telefon erwähnt. Dann fällt mir die Chinesin in Alias Büro ein, und ich schreibe den Namen Maxim dazu. Kurz überlege ich, Abreg vielleicht besser in diese Spalte mit aufzunehmen, entscheide mich dann aber dagegen. Es kommt mir zu weitreichend und zu komplex vor, so, als würden Riesen miteinander kämpfen, deren Schrittlänge einen ganzen Kontinent umfasst. Es scheint mir weit über Abregs Möglichkeiten hinauszugehen – und über meine auch.
Und während ich darüber nachdenke, fällt mir das kalte Schimmern in den Augen der Chinesin ein. Öl ist alles, hat sie gesagt. Ich verfluche mich, weil ich nicht gleich hinter ihre hübsche Fassade geschaut habe; jetzt wird mir bewusst, dass das gerissene Flackern, das ich für den Zynismus einer Hure hielt, vielleicht etwas ganz anderes war – und plötzlich sehe ich die Namen in der zweiten Spalte in einem neuen Licht. Russland, Amerika, China. Ich umkringle die Namen und schreibe das Wort Öl daneben.
Auf dem letzten Drittel der Seite notiere ich Galina/ Semerko/Dagestan/Tindi und denke an das lächelnde Mädchen auf dem Foto und die Truhe im Keller. Hier hängt das Leben eines Einzelnen an einem seidenen Faden, aber es kommt mir nicht weniger wichtig vor als alles andere, was ich aufgeschrieben habe. Ich fasse nach dem Stück Seil und dem Umschlag in meiner Tasche und springe mit dem Bleistift von einer Spalte zur anderen, eins, zwei, drei, wobei ich kleine schwarze Punkte hinterlasse, die aussehen wie Löcher in einer Zielscheibe.
Dann rufe ich Golko an.
»Wann fahren wir nach Wladimir?«, begrüßt er mich.
»Später, heute Abend. Sie müssen nach einem Mann aus Singapur namens Ravi Kho recherchieren. Er ist vor weniger als zwei Wochen irgendwo in der Nähe von Moskau ermordet worden. Finden Sie heraus, wie. Achten Sie auf Verbindungen zu Abreg oder irgendwelchen anderen Terroristen. Beeilen Sie sich und rufen Sie mich gleich an.«
Ich lehne mich zurück und warte auf seinen Rückruf. Mein Stuhl ist gerade, hart und unbequem. Er ist
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