Im Schatten des Kreml
Daumen die gewellten Seiten durch. »Auf Ihrer Uniform gestern Abend stand Achtundfünfzigste Armee.«
»Und?«
Das Buch klappt zu. Er dreht es um, knallt es auf den Tisch und steht mühsam auf. »Ich habe keine Zeit für diesen Scheiß.«
»Wovon reden Sie?«
»Hören Sie, ich stehe in Ihrer Schuld – wie wir alle – für das, was Sie gestern getan haben. Aber ich werde nicht zulassen, dass Sie hier irgendwas vertuschen. Wenn dieser Junge etwas mit einem der beiden Mädchen zu tun hatte, wird er dran glauben müssen, und es ist mir egal, wer dabei ein blaues Auge bekommt.«
»Semerko?«
Er kommt schnaufend um den Tisch herum, schiebt sich an mir vorbei und reißt die Tür auf. »Das Gespräch ist beendet.«
Ich stehe auf. »Hören Sie, Barokov. Ich versuche nicht, etwas im Auftrag der Achtundfünfzigsten Armee zu vertuschen oder Semerko zu schützen. Nicht, wenn er nicht unschuldig ist.«
Wir stehen uns so dicht gegenüber, dass er den Hals recken muss, um mir in die Augen zu sehen. Sein Atem riecht nach Fastfood-Hähnchen und Pommes frites. »Das ist er nicht.«
»Warum haben Sie ihn dann nicht verhaftet, als Sie die Möglichkeit dazu hatten?«
»Weil ich ihn nicht finden konnte. Und weil ich niemanden ohne Beweise verhafte, Oberst, auch wenn Ihnen das seltsam Vorkommen mag.«
»Vielleicht kann ich helfen, wenn Sie mich in die Akten sehen lassen.«
»Das können Sie nicht.«
Ich greife in meine Tasche und ziehe langsam das orange-schwarze Seil hervor. Es gleitet heraus wie eine Korallenschlange und entrollt sich geschmeidig, bis das Ende fast den Boden berührt. Seine Augen verfolgen die Bewegung, als wäre er hypnotisiert davon.
»Woher haben Sie das?«
»Das sage ich Ihnen, nachdem ich die Akten gesehen habe. Und ich werde sie sehen, auch wenn ich Ihr Büro in Stücke schlagen muss, um sie zu finden.«
Er mustert mich leicht angespannt und mit flatternden Nasenflügeln. Meine Neigung zu spontanen Gewaltausbrüchen dürfte ihm seit gestern Abend bekannt sein, und das Seil scheint ihn überzeugt zu haben. Er dreht sich zu einem niedrigen Metallschrank neben seinem Schreibtisch und greift relativ schnell nach einem dicken Faltordner und einer braunen Mappe. »Die dünnere Akte ist die von Galina Cheslava, dem vermissten Mädchen. Die andere ist die von Tanja. Fangen Sie damit an.«
Er schiebt mir den Stapel in die Hände.
»Versuchen Sie möglichst, Ihr Abendessen bei sich zu behalten.«
22
Ich setze mich an den Tisch im Gemeinschaftsraum. Der Ordner – Tanjas Todesakte – ist zehn Zentimeter dick. Vorne und hinten sind Namen, Zahlen und kryptische Notizen draufgekritzelt, sowie eine Katze mit spitzen Ohren, die sich in einen Teufel mit Hörnern und Dreizack verwandelt. Im Inneren des Ordners befinden sich Zusammenfassungen von Zeugenbefragungen, eine handgezeichnete Zeitachse, Daten über den Fundort und Zustand der Leiche, Skizzen von umliegenden Straßen und Wegen, von denen aus potenzielle Zeugen etwas gesehen haben könnten, gerichtsmedizinische Berichte sowie schließlich Tanjas Krankheitsgeschichte.
Ich habe nicht zu Abend gegessen, aber die Galle brennt mir in der Kehle, als ich die Seiten durchblättere, angefangen mit dem wann, wo und wie.
Tanja wurde am 12. Dezember dreizehn, vor fast einem Monat also. Am Tag darauf verschwand sie. Ihre Leiche wurde zwei Wochen später gefunden, vor einem Wohnblock ungefähr zehn Straßen von ihrem entfernt. Sie wurde mit einer Schlinge aus einem einen Meter langen und 10,4 Millimeter dicken, orange-schwarzen Kletterseil erdrosselt; der Kern des Seils ist von einem Gewebe ummantelt, das ihm maximale Festigkeit, Strapazierfähigkeit und Biegsamkeit verleiht – die Angaben des Herstellers sind alle in der Akte aufgelistet.
In einem Umschlag stecken Fotos vom Tatort. Tanjas bleiche, zierliche Gestalt sieht aus wie eine Marmorfigur, die ein Riese in seiner Hand zerquetscht und zu Boden geschleudert hat. Sie liegt nackt zusammengekauert im feuchten Dreck, die Seilschlingen zu jeder Seite des Kopfes sehen aus wie Hasenohren. Der mittlere Teil des Seils hat sich in das weiche Fleisch ihres Halses gegraben. Ihr Kopf ist in einem unmöglichen Winkel zur Seite gedreht. Aus den Aufzeichnungen des Gerichtsmediziners geht hervor, dass der Mörder ihr erst nach dem Tod den Hals umgedreht hat.
Ein Bein ist angewinkelt und zur Seite gedreht. Das andere steht im Neunzig-Grad-Winkel ab, als wolle sie einen Spagat machen. Ihre blasse Haut ist von dunklen Furchen
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