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Im Schatten des Kreml

Im Schatten des Kreml

Titel: Im Schatten des Kreml Kostenlos Bücher Online Lesen
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Fingernagel ist am Ende des Gleises gelandet, dort, wo das Lagerhaus steht. Wir brauchen weder Pollenrückstände noch Bilder von Reifenspuren, um zu wissen, dass Dubinin genau an diesem Ort vom Schicksal heimgesucht wurde.
    Golko stopft sich ein Stück Schwarzbrot in den Mund und kaut nachdenklich. »Wenn Olgas Kollegin sich nicht an den Namen erinnert hätte, hätten wir Kombi-Oil vielleicht nie mit dem Lagerhaus in Verbindung gebracht. Das muss einer der Punkte gewesen sein, die Lachek vertuschen wollte, als er Melniks Mordakte mitnahm.«
    Er nimmt einen Schluck Tee. Die Gruppe am großen Tisch in der Mitte bricht in schallendes Gelächter aus. Als einer von ihnen aufsteht, um einen Trinkspruch auszubringen, kippt sein Stuhl nach hinten um, woraufhin die anderen noch lauter lachen.
    »Was, glauben Sie, hat Lachek in Melniks Wohnung gesucht?«
    »Das Video«, entgegne ich und denke an Melniks abgegriffene Bibel und die Ikone, die er jeden Abend als Letztes zu sehen bekam, bevor er zu Bett ging. »Charlie meinte, ein Mann mit einem Gewissen hätte es Ravi gegeben, und ich glaube, dieser Mann war Melnik. Sind wir jemandem begegnet, auf den die Beschreibung besser passt als auf ihn?«
    »Nein.«
    Ich gehe die Namen durch, die ich in die Spalten geschrieben habe, um Ordnung in meinem Kopf zu schaffen. Lachek stand unter AMERCO, und dort gehört er auch hin, aber es besteht ebenfalls eine Verbindung zwischen ihm und Starye Atagi. Der Mann ist durch und durch gefährlich.
    »Wissen Sie noch, was ich Ihnen über Lachek und seine Leute erzählt habe?«, erinnere ich Golko.
    Er nickt und wischt sich einen Schweißfilm von der Stirn. Während er seine Sachen zusammensammelt, erhalte ich eine SMS vom General: Ich soll in sein Hauptquartier kommen.

34
    Das wandelnde Fragezeichen begleitet mich wieder zum Büro des Generals und schließt die schwere Tür hinter sich, als sie geht. Er beendet gerade etwas am Computer, schaltet ihn aus und sieht mich mit unergründlichem Blick an.
    »Natürlich wird Russland ausverkauft«, sagt er, als wäre unser letztes Gespräch gar nicht unterbrochen worden. »Alles ist käuflich. Man muss sich um die Dinge kümmern, auf die man Einfluss hat.«
    Nachdem er sich bei unserem vorherigen Treffen zuletzt nervös die Schläfen gerieben hatte, strahlt er jetzt wieder die Selbstsicherheit aus, die ich an ihm kenne. Ich frage mich, wann er wohl genug hat. Wie viele Millionen Rubel, Dollar, Euro oder Pfund auf einem geheimen Schweizer Konto braucht er noch, bis er zufrieden ist?
    Es stimmt nicht, dass Lachek und Maxim zwei unterschiedliche Ausprägungen desselben Menschenschlags sind. Sie sind völlig verschieden, denn Maxim hat sich weiterentwickelt. Genau wie der General. Der direkte Kampf um postsowjetisches Kapital, den anfangs Männer wie Hutsul und Lachek gewannen, ist abgelöst worden zugunsten einer Neuzuteilung wichtiger Industrien und Besitztümer an einen allmächtigen Staat, der von ein paar Zynikern kontrolliert wird. Waffen und Kugeln sind Gesetzen, Vorschriften, Gerichtsbeschlüssen, ausgefuchsten Geschäftsplänen und komplexen juristischen Manövern gewichen. Die Regeln haben sich geändert, aber ich kenne das alles schon und habe kein Interesse, das ganze Spiel noch mal mitzuerleben.
    Meine Uhr piept. Sieben Uhr abends. Vor achtundvierzig Stunden saß ich auf einem schwitzenden Stahlträger im Feuerherd des brennenden AMERCO-Gebäudes. Mein Gesicht tut weh, und ich bin müde. Nicht einfach schläfrig, sondern erschöpft von einem tief sitzenden Schmerz, der mich ziellos auf etwas zutreiben lässt – aber auf was? Und so schnell, wie die Frage auftaucht, folgt auch schon die Antwort. Der General hat recht. Ich muss mich um die Dinge kümmern, auf die ich Einfluss habe. Die mir wirklich wichtig sind.
    Es dürfen keine Soldaten mehr sterben, für das, was in Starye Atagi geschehen ist, egal, was es war. Die Verantwortlichen haben es vielleicht verdient, aber nicht irgendwelche Rekruten. Tschetschenien war ein Trip durch die Hölle. Ob Berufssoldaten oder Wehrpflichtige – der Verstand war das Erste, was flöten ging. Die Männer, die die Soldaten töten, sind nicht in der Lage, über sie zu urteilen.
    Galina darf nicht sterben. Sie darf nicht eines der vielen namenlosen Opfer dieser von Gewalt verseuchten Stadt werden. Ich sehe ein Bild vor mir: Moskau brennt, wie an jenem Tag, als Napoleon einzog, um zu verlieren. Symbolisch kündigte sich damals die Zukunft einer Stadt in den ewigen

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