Im Schatten des Kreml
wieder etwas auf. Sticht eine Nadel in meine Schulter.
»Was macht ein NSA-Mann in der Lubjanka?«
Matthews antwortet nicht. Er wartet einfach in der Ecke, während der Arzt mich systematisch auf gebrochene Knochen untersucht, auf meine Rippen drückt, meine Arme und Beine bearbeitet und die Lippen zurückzieht, um einen Blick auf meine Zähne zu werfen. Ich sehe immer noch nicht, wer sich außer uns noch im Raum befindet.
Der Arzt entfernt mit einer Zange den Splitter von der Nadel aus meinem Oberschenkel, den Edorskai dort hinterlassen hat. Ich hatte ihn schon ganz vergessen. Er betrachtet ihn desinteressiert und wirft ihn in einen silbernen Mülleimer. Dann wendet er sich ab, um einen Ausdruck aus seinem Computer zu lesen, nickt einmal, reißt die klebrigen Kabel ab, die er mir vorher aufgeklebt hatte, sammelt seine Utensilien zusammen und verschwindet wortlos.
Matthews kommt nahe an mich heran. Er hat zu viel von einem würzigen Parfüm aufgetragen. »Was ist mit Charlie, Volk?«
»Was hast du Lachek erzählt, damit er mich gehen lässt?«
Gerade will er in scharfem Ton antworten, besinnt sich dann aber eines Besseren. Er sieht sich um und tritt zur Seite. Eine andere Person nähert sich ohne jede Eile meiner Trage.
Schütteres graues Haar, links gescheitelt. Traurige Augen, deren Winkel herabhängen, umkränzt von Sorgenfalten. Künstliche Zähne oder Kronen, gerade und weiß. Eine Nase, die mehr als einmal gebrochen wurde, wahrscheinlich vor langer Zeit, denn selbst wenn er mal ein Schläger gewesen sein mag, würde ich ihn jetzt als Denker bezeichnen. Er trägt einen zerknitterten kaffeebraunen Anzug, der eine Nummer zu groß ist, und ein abgenutztes weißes Hemd. Aus seinem offenen Kragen ragt ein faltiger, magerer Hals hervor.
»Wissen Sie, wer ich bin, Oberst?« Er spricht mit einem kratzigen Flüstern, das schmerzhaft klingt, als würden ihm Metallspäne die Kehle aufreißen.
»Ja«, erwidere ich, weil es die Wahrheit ist, obwohl wir uns nie begegnet sind und ich bis vor Kurzem glaubte, er sei tot. Der Legende nach sollen seine Stimmbänder in flüssigem Feuer geröstet worden sein, als er bei einem chinesisch-sowjetischen Grenzkonflikt in den späten Sechzigern in Gefangenschaft geriet und jemand ihm den Kopf nach hinten bog und flammenden Branntwein in seine Kehle goss.
Der Name Konstantin ist weit verbreitet. Allein, ohne Zusatz oder Nachnamen, beschwört er jedoch eher einen Mythos als einen Menschen herauf. Konstantin bekleidete – bekleidet, ich korrigiere mich in Gedanken – in unserer Regierung ein Amt irgendwo weit oben in der dünnen Luft, wo Rang und politische Stellung keine Rolle mehr spielen. Er hat Premiers und Präsidenten von Stalin bis Putin überdauert.
Ich erinnere mich wieder an die Szene, als die Raketen über den Roten Platz paradierten, vorbei an sowjetischen Würdenträgern, die auf den Stufen zu Lenins Grabmal aufgereiht waren. Irgendwo in diesem Tableau steht ein unscheinbarer Mann Schulter an Schulter mit den mächtigsten Politikern, in Hörweite der Oberbefehlshaber von Luft-, See – und Bodenstreitkräften, ein Flüstern entfernt von der Spitze der Geheimpolizei – Beria, Andropow, Putin: ein Platz, den er seit fast einem halben Jahrhundert einnimmt, immer mitten im Auge des politischen Sturms.
Er sagt: »Ich will, dass Sie diesem Mann erzählen, wo Charlene Thomas festgehalten wird.«
»Ich werde kein Wort über sie verlieren, solange ich nicht weiß, ob Valja in Sicherheit ist. Sicher vor Ihnen, vor den Amerikanern, vor allen.«
Matthews tritt von einem Bein aufs andere. Konstantins Ausdruck verändert sich nicht im Geringsten, er streckt lediglich das Kinn ein wenig vor, wie um seinen Worten ihren Weg aus der kaputten Kehle heraus zu erleichtern. »Solange Sie mit uns Zusammenarbeiten, tun wir ihr nichts. Aber wir können nicht für ihre Sicherheit garantieren. Sie bringt sich immer wieder selbst in Gefahr.«
»Was soll das bedeuten?«
»Sie ist im Süden, im Hexenkessel. Einige der Leute, mit denen sie unterwegs ist, gehören der gescheiterten Konföderation an. Sie verhandeln mit Bandenchefs, mit oppositionellen ebenso wie uns freundlich gesinnten Regierungen, mit Militärkommandanten – kurz, mit jedem, der ihnen zuhört – , und sie steckt mittendrin.«
Konstantin spricht ausdruckslos, ohne zu urteilen, wie ein gleichgültiger Gott. Er hätte mir genauso gut erzählen können, dass Valja ihre Zeit damit verbringt, ein Gemälde im Puschkin-Museum
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