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Im Schatten des Kreml

Im Schatten des Kreml

Titel: Im Schatten des Kreml Kostenlos Bücher Online Lesen
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Schnee auf, dann noch eine. Befehle wurden gebrüllt, gefolgt von einem Streit in einem Dialekt, dem ich nicht ganz folgen konnte. Aber das Wesentliche begriff ich: Es war lange her, dass ich auf sie geschossen hatte; wahrscheinlich war ich entweder tot oder schwer verwundet. Aber keiner von ihnen wollte ins Fadenkreuz stürmen, für den Fall, dass sie sich irrten.
    Ich nutzte die Zeit und brachte mich in Bauchlage hinter einer trichterförmigen Steinformation, die eine natürliche Schießscharte abgab. Unter mir hatte sich mein blutiger Schneeanzug durch die Erschütterung der Raketen zu einem Haufen zusammengeschoben, aber in der Hitze des Gefechts würde er wohl noch als Leiche durchgehen. Aufgeregte Stimmen stiegen laut streitend zu mir auf, verstärkt durch den Widerhall.
    Ein Arm erschien an der Felsecke und warf eine Handgranate in mein ehemaliges Versteck. Ich steckte das Gesicht in den Schnee, während die Explosion an der Felswand verpuffte und die Luft über mir erzitterte. Noch eine Granate, dann stürmten vier Rebellen laut brüllend um den Felsen herum und feuerten wild aus diversen Waffen – zwei Kalaschnikows, eine Flinte und sogar eine Pistole. Als sie meinen Schneeanzug sahen, durchlöcherten sie ihn mit Kugeln und stießen Kriegsgeschrei und Flüche aus.
    Eine kalte, lähmende Stille folgte auf die Kakophonie. Rauchwolken bauschten sich auf. Eine Rebellin rief nach ihren Gefährten, während jemand anders sich dem blutigen Anzug näherte, der jetzt aussah wie ein in Stücke geschossener Mann ohne Kopf. Ich konnte nicht hören, was sie sagte, aber die anderen mussten glauben, dass die Luft rein war, denn jetzt kamen zwei weitere um die Felsen herumgekrochen. Zu spät brüllte die Frau ihnen zu, dass sie umkehren sollten.
    Zuerst nahm ich mir die vor, die am nächsten an der Felswand standen. Das Sturmgewehr spuckte fauchende Geschosse aus, die sie ummähten wie eine Sense. Ich wechselte hastig das Magazin und schwenkte zurück in die andere Richtung, bis sie schließlich alle blutüberströmt im Schnee lagen. Noch einmal tauschte ich das Magazin aus. Erledigte die beiden, die sich noch bewegten, mit sorgfältig platzierten Schüssen, bis nur noch einer am Leben war – die Frau, die den Angriff angeführt hatte.
    Sie hangelte sich langsam mit einem Arm in Richtung eines Gewehrs, das einen Meter weiter halb im Schnee vergraben lag. Unterhalb ihrer Hüfte funktionierte nichts mehr. Ich kletterte von meinem Ausguck hinunter und bewegte mich auf sie zu, mit einem wachsamen Auge auf die anderen, für den Fall, dass einer von ihnen sich nur tot stellte. Als ich bei ihr war, hob ich das Gewehr auf und warf es weg.
    Ihre Iris glich einer eisig blauen Insel inmitten des pulsierenden Weiß ihrer Augen, die gleichzeitig Schock, Resignation und Hass ausdrückten. Blut sickerte von ihrem Rücken auf den Schnee durch einen zerrissenen Kittel aus weißen Tüchern, die jetzt größtenteils rot gefärbt waren. Ein Arm lag eingekeilt unter ihrem Körper. Ich sah mir die anderen an, aber keiner von ihnen war mehr am Leben. Neben der Frau war eine Pistole in den Schnee gefallen – eine Makarow. Ich zog das Magazin heraus und leerte es bis auf eine Kugel, die ich in die Kammer steckte, dann legte ich die Pistole etwas außerhalb ihrer Reichweite hin. Sie konnte sie erreichen, aber nur mit viel Mühe und erst dann, wenn ich weit weg und in Sicherheit war. Mein Anzug war vollkommen zerfetzt, aber die Überreste waren besser als nichts, also stieg ich wieder hinein.
    »Abreg wird dich töten«, sagte sie auf Russisch. Sie lag jetzt völlig still da, bis auf ein leises Zittern von dem Schock, den sie erlitten hatte.
    Ich zog einen meiner Stiefel an. »Vielleicht.«
    »Warum könnt ihr uns nicht in Ruhe lassen?«
    Als ich aufbruchbereit war, hockte ich mich neben sie. »Die Geister der Unschuldigen, die auf dem Puschkin-Platz in Stücke gerissen wurden, lassen mich nicht in Ruhe.«
    »Tag der Roten Armee, 1944... das Datum sagt Ihnen was, oder? Stalin hat ... alle Tschetschenen und Inguschen nach Zentralasien und Sibirien deportiert. Weil sie mit den Nazis kollaborierten, wie er behauptete. Selbst Sie ... Sie wissen, dass das nichts anderes als ein Vorwand war.«
    Aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen, bis auf die blauen Äderchen unter dem linken Auge.
    »Neujahr 1995 ...«, fuhr sie fort. »Russische Panzerkolonnen greifen Grosny an und töten ... über hunderttausend Menschen. Die meisten davon Zivilisten, einige

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