Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)
dem Raum darauf hin, dass hier ein Gast wohnte. »Also schauen wir uns mal im Schlafzimmer um«, entschied Carya an sich selbst gerichtet.
Auch hier herrschte penible Ordnung, aber zumindest fanden sich Spuren darauf, dass ein Mensch diese Räumlichkeiten bewohnte. Auf dem breiten Himmelbett lag ein sorgsam gefaltetes Nachtgewand. Auf dem Nachttisch standen ein kleines Fläschchen mit grüner Flüssigkeit und ein Becher. Hinter einem gemusterten Vorhang verbargen sich die beiden Koffer des Botschafters, und in einem hohen Schrank entdeckte Carya seine Kleidung, die überwiegend in den Farben Rot und Weiß gehalten war, mit goldenen Zierelementen.
Am interessantesten erschien ihr der kleine Schreibtisch mit den fragil geschwungenen Holzbeinen direkt am Fenster. Eine schwarze Mappe und ein Füllfederhalter lagen darauf. Obwohl niemand da war, der sie hätte hören können, huschte Carya auf Zehenspitzen hinüber. Sie achtete darauf, dass sie nicht direkt durch das hohe Fenster zu sehen war. Man wusste nie, wer unten auf der breiten Terrasse, die den Übergang zwischen Schloss und Park bildete, gerade flanierte.
Als sie die Mappe genauer in Augenschein nahm, stellte sie fest, dass sie durch ein messingfarbenes Schloss gesichert war. Probeweise versuchte sie, den Mechanismus zu öffnen, doch Cartagena war nicht so nachlässig wie der Diener mit der Zimmertür gewesen. Es ließ sich nicht aufmachen. Gedankenverloren kaute Carya auf ihrer Unterlippe, während sie mit dem Zeigefinger über das Schloss strich. Wenn sie nur etwas Dünnes, Spitzes wie eine Stecknadel oder besser zwei gehabt hätte, wäre es ihr bestimmt gelungen, es zu knacken.
Suchend sah sie sich im Zimmer um. Im Vorhang neben den Fenstern entdeckte sie, was sie brauchte. Um einen gefälligen Faltenwurf zu erzeugen, hatte ein Diener den Vorhangstoff mit ein paar Nadeln festgesteckt. Zufrieden zog Carya zwei davon heraus, bevor sie an den Tisch mit der Mappe zurückkehrte.
Sorgfältig nahm sie das Schloss in Augenschein. Anschließend führte sie die beiden Nadeln ein und bewegte sie leicht darin umher. Sie konnte das, Carya wusste es. Das Templerjugendmädchen mochte nicht imstande dazu gewesen sein, aber dieses Mädchen war sie nicht mehr. Tief in ihrem Inneren verborgen besaß sie Gaben, und sie konnte diese an die Oberfläche zwingen, wenn sie sich nur fest genug darauf konzentrierte.
Mit einem kaum hörbaren Klicken ging das Schloss auf. Carya zog den Riegel zur Seite und nahm die Nadeln heraus. Damit sie nicht herumlagen, steckte sie rasch den Vorhangstoff wieder damit fest. Danach klappte sie mit klopfendem Herzen die Mappe auf.
Mehrere Dokumente wurden darin aufbewahrt. Zum Teil waren sie handgeschrieben, zum Teil in ungewöhnlich scharfer Schreibmaschinenschrift verfasst. Die meisten waren zu ihrer Enttäuschung in einer Sprache, die sie nicht verstand. Daran hatte Carya gar nicht gedacht. Cartagena sprach zwar fließend Arcadisch und Francianisch, das hieß aber nicht, dass es sich bei einer der beiden um seine Muttersprache handelte. Eine Tabelle fiel ihr ins Auge, die in Francianisch abgefasst war. Wie es aussah, handelte es sich dabei um eine Warenaufstellung. Vor allem Tiere waren dort in großer Zahl aufgelistet: Hühner, Schafe und Rinder. Carya verstand nicht ganz, was sie vor sich hatte. Womöglich ein Handelsabkommen zwischen Cartagena und dem Mondkaiser.
Auf einmal fiel ihr Blick auf eine handschriftliche Notiz, eine kurze Nachricht nur.
Die Sonne und der Mond nähern sich einander an.
Bald schon stehen sie gemeinsam am Himmel.
Wir müssen handeln. Kommen Sie rasch.
– J.
Stirnrunzelnd starrte sie das Dokument an. Was hatte das zu bedeuten? Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass diese Zeilen wichtig waren, vielleicht sogar von einiger Brisanz. Die Sonne und der Mond … , grübelte sie. Die tatsächlichen Himmelskörper waren damit bestimmt nicht gemeint. Eher handelte es sich um Geheimnamen. Konnte der Mond für den Mondkaiser stehen? Das kam ihr nicht zu abwegig vor. Vielleicht verbarg sich hinter J ja Justeneau, dieser Minister, der Cartagena abgeholt hatte. In dem Fall war die Sonne …
Auf einmal wurde im Nachbarzimmer die Tür geöffnet. Carya schrak zusammen. Schritte von mindestens zwei Personen wurden laut, dann wurde die Tür wieder geschlossen. Hektisch schob sie die Unterlagen zusammen und klappte die Mappe zu. Zeit, sie zu verschließen, hatte sie keine mehr. Stattdessen huschte sie auf den Vorhang zu, hinter dem die
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