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Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)

Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)

Titel: Im Schatten des Mondkaisers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Perplies
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… Nemesis. «
    Dann wechselte die Szenerie des Traums. Auf einmal war Carya selbst der Schatten. Sie huschte durch die prunkvollen Gänge von Château Lune, die, nur von wenigen Kerzen erhellt, leer und verlassen auf den neuen Morgen warteten. Mit traumwandlerischer Sicherheit eilte sie durch die Korridore, eine Treppe hinunter und eine hinauf. Ihre bloßen Füße machten kein Geräusch und hinterließen keine Spuren.
    Plötzlich stand sie vor einer Tür. Sie war nicht verschlossen. Lautlos schlüpfte sie hindurch und in den Raum dahinter. Still und dunkel lag er da. Die schwarzen Schemen eines herumstehenden Stuhls, eines Sofas und einer riesigen Kugel, die in einem Gestell ruhte, hoben sich im schwachen Schein, den ein fahler Mond durch den Spalt zwischen den Vorhängen sandte, vor dem Dunkelgrau der Wände ab. Wie ein Geist glitt Carya an den Möbelstücken vorbei zu einer angelehnten Tür, die zu einem Schlafzimmer führte.
    Ein großes Himmelbett füllte den wenigen Platz beinahe zur Gänze aus. In ihm lag ein schlafender Mann. Er merkte nicht, dass Carya im Raum war und dass sie auf Zehenspitzen zu ihm schlich. Er merkte auch nicht, wie sie ihm den handlichen Elektroschocker an den Hals setzte und abdrückte. Wie sie die winzige Phiole entkorkte und ihm das Gift einflößte, konnte er in seiner Bewusstlosigkeit nicht mehr mitbekommen. Er starb ganz friedlich.
    Mit einem Ruck wachte Carya auf! Ihr Nachthemd war nass geschwitzt, und das Bett wirkte zerwühlt. Stöhnend setzte sie sich auf. »Licht Gottes, was für ein Albtraum«, murmelte sie und strich sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht.
    Sie kämpfte sich aus dem Bett und tappte hinüber zur Waschecke. Dort goss sie etwas Wasser in die Waschschüssel, benetzte ihre Hände und Unterarme und spritzte es sich ins Gesicht. Ihr Nachthemd klebte so unangenehm am Leib, dass sie es auszog und vor den lauwarmen Ofen hängte, um stattdessen die Bluse, Stoffjacke und Hose überzustreifen, die sie bei ihrer Wanderung durch die Wildnis getragen hatte.
    Anschließend trat sie an den Vorhang und zog ihn auf, um einen Blick nach draußen zu werfen. Der Himmel färbte sich bereits langsam rot und orange, ein Farbenspiel in den Wolken, das sie unwillkürlich an Blut denken ließ. Schaudernd ließ sie den Vorhang zurückgleiten.
    Da sie keine Uhr auf dem Zimmer hatte, öffnete sie die Tür zum Flur, denn sie erinnerte sich daran, dass am Ende des Gangs eine verzierte Wanduhr hing, die tags wie nachts monoton tickend für alle Gäste auf dem Stockwerk die Zeit angab. Ein Blick darauf verriet ihr, dass es bereits Viertel vor sieben war. Sie musste sich beeilen, wenn sie pünktlich zu ihrem Treffen im Park sein wollte.
    Schnell zog sie ihre Schnürschuhe an – nicht die edlen blauen, sondern die aus Arcadion –, dann lief sie los, den Gang und zwei Treppen hinunter ins Erdgeschoss. Über eine Seitentür gelangte sie hinaus in den Garten. Die Luft war kühl, aber ein Blick hinauf zu der überall aufreißenden Wolkendecke verriet Carya, dass in den nächsten Stunden wenigstens nicht mit Regen zu rechnen war. Vielleicht würde es sogar ein ganz schöner Tag werden.
    Im Eilschritt lief sie seitlich am Südflügel vorbei Richtung Südwesten. Der Garten lag völlig verwaist da, aber sie nahm dennoch den Umweg durch die verwilderte Orangerie im Süden der riesenhaften Anlage in Kauf, statt sich unmittelbar hinter dem Hauptflügel quer über den weitläufigen Platz mit seinen zwei Wasserbecken und anschließend über die breite Treppe ihrem Ziel zu nähern. Auch wenn sie davon ausging, dass ihr ominöser Briefschreiber mit Bedacht den frühen Morgen für ein heimliches Treffen gewählt hatte, weil da das ganze Schloss noch tief und fest schlief, war Carya lieber vorsichtig.
    Es war immer möglich, dass ein von unruhigem Schlaf geplagter Diener oder – schlimmer noch – Höfling mitbekam, dass sie zu so ungewöhnlicher Uhrzeit draußen unterwegs war. Eine Ausrede wäre wohlgemerkt schnell zur Hand gewesen. Sie war neu auf Château Lune und noch immer einen anderen Lebensrhythmus gewöhnt. Außerdem liebte sie diesen Garten mit seinen wildromantisch überwucherten Wegen und den verborgenen Orten, an denen kleine Springbrunnen standen. Im überbevölkerten Arcadion hatte es so etwas nicht gegeben – zumindest nicht annähernd in diesen Ausmaßen. Dennoch war es besser, wenn man sie überhaupt nicht erst bei diesem Ausflug erwischte.
    An langen Reihen sorgsam gestutzter Zierbäume

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