Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)
recht. Ihre ganze Maskerade war zum Scheitern verurteilt, denn welche Lügen sie den Bewohnern von Château Lune auch auftischen wollten, sie würden sie ihnen in gebrochenem Francianisch und mit hörbarem Akzent auftischen. Gleich darauf kam ihm eine Idee, und er entspannte sich. »Wir behaupten einfach, dass wir Flüchtlinge aus den Grenzlanden sind. Wir haben früher in Genovia gelebt.«
»Weißt du, wie es in Genovia aussieht?«, wollte Pitlit wissen.
»Nein, aber im Schloss weiß das doch auch keiner.«
Der Junge sah ihn nur zweifelnd an.
»Also schön, dann kommen wir eben aus Firanza.«
»Livorno«, schlug Pitlit vor. »Das kennen wir beide.«
»Einverstanden.« Zufrieden, dass sie das geklärt hatten, lehnte Jonan sich auf der Sitzbank zurück. Er hoffte nur, dass sie nicht noch etwas anderes Wichtiges übersehen hatten.
Eigentlich hatte Carya gedacht, sie habe alles, was Château Lune an Pracht zu bieten hatte, bereits gesehen. Diese Einschätzung musste sie zurücknehmen, als sie an diesem Abend den Ballsaal des Schlosses betrat. Der lang gestreckte Raum war von gewaltigen Ausmaßen, bestimmt achtzig Meter lang, zehn Meter breit und ebenso hoch. Die eine Seite des Saals wies mit mindestens fünfzehn riesigen Fenstern auf den Park hinaus, die gegenüberliegende Wand wurde durch symmetrisch zu den Fenstern liegende Spiegel ausgefüllt. Silberne Stuckarbeiten und grandiose Deckengemälde zierten den Raum, und ein Dutzend mächtiger Kristalllüster erhellten ihn. Das Licht der Kerzen spiegelte sich in den Glasflächen, den Spiegeln und Zierelementen, sodass ein atemberaubendes Lichterspiel entstand, so als stünde man unter einem wundervollen Sternenzelt.
Als Carya eintraf, hatte sich bereits eine beachtliche Zahl von Höflingen und Gästen eingefunden. Jeder, der im Schloss – und in den umliegenden Landstrichen – Rang und Namen hatte, schien zugegen zu sein. Im vorderen Bereich des Saals standen die Menschen beisammen und unterhielten sich. Im mittleren wurde zur Musik eines achtköpfigen Orchesters getanzt. Im hinteren Teil stand der Thron des Mondkaisers, auf dem der Mann mit der Silbermaske saß und huldvoll auf seine Untertanen hinabschaute. Einige Minister leisteten ihm Gesellschaft, darunter Julianne Factice, die interessanterweise an diesem Abend ein Kleid mit schwarzer Schärpe gewählt hatte.
Anscheinend setzte sich die Feier auch in den Nachbarräumen fort, denn Carya sah mehrere Leute durch eine Tür wenige Meter zu ihrer Rechten verschwinden, derweil zwei Männer mit gefüllten Gläsern daraus hervorkamen.
Langsam schritt Carya durch die Menge und sah sich um. Pompöse Kleider und geckenhafte Uniformen umgaben sie, wo sie auch hinblickte. Schwindelerregend hohe Haartürme, grell geschminkte Gesichter, affektiertes Lachen und hochnäsige Mienen tauchten schlaglichtartig in dem bunten Getümmel auf. Irgendwie fühlte Carya sich unangenehm fremd in diesem Treiben, und es bewies ihr auch, wie wenige Menschen sie am Hof bislang kennengelernt hatte. Und unter denen, die sie kannte, waren zwei, vor denen sie sich verstecken musste, einer, den man umgebracht hatte, eine, die Carya an den Kragen wollte, und einer, der fragwürdige Intrigen spann. Was für ein netter Freundeskreis , dachte sie. Schlimmer als an der Akademie des Lichts.
Im Grunde gab es nur einen Menschen bei Hofe, mit dem sie gerne verkehrte, und das war Prinz Alexandre. Esabelles Geschichten über seine Eskapaden hatten dem Bild, das Carya von ihm hatte, zwar einen leichten Makel zugefügt. Doch andererseits war Carya hier zur Nachsicht bereit. Mit einer Frau wie Aurelie jahrelang verlobt zu sein, war sicher nicht einfach. Außerdem war Alexandre ein junger Mann, und junge Männer konnten sich weiblichen Reizen einfach nicht entziehen. Und zu guter Letzt wollte sie ja gar nichts von dem Prinzen, also störte es sie nicht, wenn er den Hofdamen und Dienerinnen schöne Augen machte, solange er ihr gegenüber so charmant blieb, wie sie ihn kennengelernt hatte.
In der Ferne erspähte Carya die Sondergesandte Arida und Paladin Julion Alecander. Arida unterhielt sich angeregt mit einem hageren Höfling. Der Paladin stand stumm daneben und wirkte etwa so fehl am Platze, wie Carya sich auch fühlte. Wäre Alecander nicht bedauerlicherweise ihr Feind gewesen, hätte sie diesen Zug an ihm sympathisch gefunden.
Cartagena konnte Carya nicht entdecken. Der Botschafter, für den dieser Ball letztlich ausgerichtet worden war, schien noch
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