Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)
und gebot Carya, ebenfalls Platz zu nehmen.
»Dann wissen Sie also bereits davon?«, fragte sie, als sie der Aufforderung nachkam.
»Das Palastgeflüster hat mir einen groben Überblick verschafft: Ein junger Gast des Balls, der Sohn eines Stadtrats aus Évry, wie es heißt, soll Sie auf Ihrem Zimmer belästigt haben. Prinz Alexandre kam dort auf dem Weg zu einem Freund zufällig vorbei, hörte Ihre Hilferufe und griff ein. Es kam zu einer Rangelei, die mit der Festnahme des Lüstlings endete.«
»Was?«, entfuhr es Carya entrüstet. »Das erzählt man sich im Palast? Das ist von vorne bis hinten gelogen.«
»Es ist die offizielle Version der Geschehnisse«, verbesserte Cartagena sie. »Dass sie der Wahrheit entspricht, glaubt kaum jemand, der schon länger im Palast weilt. Die meisten Gerüchte, die natürlich niemand gehört oder weiterverbreitet haben will, besagen, dass der Prinz im Südflügel war, weil er zu Ihnen wollte. Man hat Sie beim Ball miteinander tanzen sehen. Und auch der Zwischenfall beim Frühstück vor zwei Tagen hat sich herumgesprochen, als es wegen Ihnen zum Streit zwischen Alexandre und Aurelie kam. Das alles ist eine gefährliche Entwicklung, vor der ich Sie dringend warnen muss.«
Carya schnaubte. »Und dabei ist das noch nicht mal die Hälfte von dem, was passiert ist.«
Mit ernster Miene lehnte sich der Botschafter in seinem Sessel zurück und faltete die Hände vor der Brust. »Verraten Sie mir, was geschehen ist. Deshalb sind Sie doch hier, oder?«
»Ja, das stimmt. Ich brauche Ihre Hilfe. Der Festgenommene war kein Kaufmannssohn aus Évry, sondern Jonan, einer meiner beiden Gefährten, von denen ich in Orly getrennt wurde. Der zweite heißt Pitlit, ein dreizehnjähriger Junge, der im Moment unter Stubenarrest steht. Und natürlich war es nicht Jonan, der mich bedrängt hat, sondern Alexandre. Er macht mir schon seit Tagen Avancen. Beim Ball habe ich ihn abgewehrt, aber als ich schlafen gehen wollte, suchte er mich betrunken in meinem Zimmer auf und … nun ja, er wollte mich zwingen, das Bett mit ihm zu teilen. Glücklicherweise kam Jonan hinzu. Doch dann fingen die beiden an, sich zu prügeln, und die Wachen tauchten auf. Nun sitzt Jonan im Gefängnis und soll – wenn es nach dem Prinzen geht – zum Tode verurteilt werden.« Carya beugte sich auf ihrem Sessel vor und sah Cartagena flehend an. »Bitte, Signore, Sie müssen das verhindern. Sie haben die Macht dazu. Jonan ist unschuldig. Er wollte mir nur helfen.«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann. Den Prinzen anzugreifen, ist ein schweres Vergehen, ganz gleich, ob man im Recht oder Unrecht war.« Carya wollte etwas einwenden, doch Cartagena hob abwehrend die Hand. »Warten Sie. Ich habe nicht gesagt, dass ich es nicht versuchen werde. Aber dafür brauche ich alle Informationen, die ich bekommen kann. Sie müssen vollständig ehrlich zu mir sein.«
»Fragen Sie, was Sie wissen müssen«, antwortete Carya.
»Warum sind Jonan und Pitlit in den Palast gekommen?«
»Sie wollten mich nur finden. Das war der einzige Grund. Weil ich mit einem kaiserlichen Motorwagen weggebracht wurde, nahmen sie an, ich sei auf dem Schloss.«
»Und wer hat ihnen dabei geholfen? Diese Politikersohn-aus-Évry-Geschichte haben sie in der Trümmerzone doch nicht allein ausgeheckt.«
»Ein Minister namens de Funès. Er ist mit jemandem in der Trümmerzone befreundet, dem er noch einen Gefallen schuldete, oder so. Und der hat ihn gebeten, Jonan und Pitlit mit falschen Identitäten auszustatten. Genauer weiß ich das auch nicht.«
»Und jetzt die wichtigste Frage.« Cartagena beugte sich vor und maß Carya mit einem scharfen Blick. »Haben Sie schon irgendetwas über Ihre Vergangenheit herausgefunden? Sie haben, wie ich mitbekam, einige Nachforschungen über das Schloss und seine Bewohner angestellt.«
»Was hat das mit der Schuld und Unschuld von Jonan zu tun?«, wollte Carya wissen.
»Alles. Wenn Sie etwas mit Ch â teau Lune verbindet, könnte das für Sie sprechen. Schließlich muss ich den Kaiser davon überzeugen, dass Sie alle keine Bedrohung für ihn darstellen.«
Beinahe hätte Carya laut aufgelacht. Der Mann, der im Geheimen gegen den Kaiser intrigierte, wollte diesen davon überzeugen, dass sie, die noch immer nicht völlig ausschließen konnte, nicht vielleicht sogar die Tochter seiner Majestät zu sein, keine Bedrohung darstellte. Bedauerlicherweise war die Situation zu ernst, als dass Carya sie mit Humor nehmen konnte. »Wir wollen dem
Weitere Kostenlose Bücher