Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)
Pitlit. Er schob einen leeren Teller, auf dem noch ein alter Apfelrest und ein paar Brotkrumen lagen, zur Seite und schwang die Beine vom Bett. »Müssen wir das Schloss verlassen?«
»Nicht nur das: Wir müssen ganz aus Francia verschwinden. Wir gelten ab jetzt als unerwünschte Personen. Morgen fährt unser Motorwagen. Und an der Motorhaube flattert der Wimpel der dreistrahligen Sonne.«
»O Kacke«, murmelte Pitlit. »Heißt das, wir kommen vom Regen in die Traufe?«
»Ich hoffe nicht. Die Sondergesandte Arida, die für meine Freilassung verantwortlich war, behauptet, mein Vater hätte sie bezahlt, um mich heimzuholen. Das spricht nicht dafür, dass wir gleich auf dem Volksplatz hinterm Stadttor erschossen werden. Abgesehen davon ist die Fahrt von Paris nach Arcadion weit. Da kann viel passieren. Gäste können verloren gehen, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Diese Aussicht gefällt mir schon besser, also jedenfalls solange wir dafür verantwortlich sind, dass die Gäste – sprich: wir – verloren gehen.«
»Versteht sich von selbst.«
»Hast du was von Carya gesehen oder gehört?«.
»Nein, seit gestern Nacht nicht mehr«, antwortete Jonan.
»Vor ein paar Stunden war sie hier und hat mir alles erzählt, was passiert ist. Danach wollte sie zu diesem Kerl, Cartagena, und bei ihm für uns um Gnade bitten.«
Jonan machte ein finsteres Gesicht. »Das scheint nicht ganz geklappt zu haben. Entweder war sie nicht schnell genug …«
»… oder sie hat neuen Ärger gekriegt«, vollendete Pitlit seine geheime Befürchtung. »Diese Hofgesellschaft ist schlimmer als das Ödland von Arcadion.«
»Wem sagst du das.« Mürrisch ging Jonan zum Fenster hinüber und zog den Vorhang ein wenig zur Seite. Er blickte auf den weitläufigen Platz mit den Wasserbecken und verschlungenen Zierhecken, der an den Südflügel von Château Lune grenzte. Zu dieser Stunde war dort kaum jemand unterwegs. Es war sicher nicht schwer, mit einem Stuhl die Scheiben und Holme des bodentiefen Fensters zu zerschlagen. Krach würde es machen, keine Frage. Aber diese Fluchtmöglichkeit blieb ihnen, wenn es nötig wurde. Allerdings hieß das dann, Carya zurücklassen. Und das stand nach all der Mühen, die sie auf sich genommen hatten, um sie zu finden, außer Frage.
Auf einmal tauchte um die Ecke des Mittelbaus eine Gruppe Reiter in Soldatenuniformen auf. In flottem Trab ritten die Männer an der Südfassade des Gebäudes vorbei. Jonan kniff die Augen zusammen. Unter ihnen befand sich auch Prinz Alexandre. Seine silberne Halbmaske war deutlich zu erkennen. Auf den Rücken hatten die Männer Gewehre geschnallt. Zwei von ihnen lachten, der Rest wirkte eher grimmig.
Jonans Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen, als ihm klar wurde, was er da sah: die Soldaten, die nach Paris in die Trümmerzone ritten, um dort auf Menschenjagd zu gehen. Und Prinz Alexandre war unter ihnen, nein, er führte sie sogar an. Hat er erfahren, dass ich verschont wurde, und will seine Wut jetzt an jemand anderem auslassen?
Die Gardisten würden sich wundern. Diesmal würden Bonasses Kinder zurückschießen. Vor Jonans geistigem Auge stieg das Bild eines blutigen Straßenkampfes auf. Männer und Kinder starben. Der Tod herrschte noch schlimmer als zuvor, denn mit den Revolvern mussten die Schützlinge von Géants Bruder glauben, dass sie gegen ihre Peiniger eine Chance hatten – was natürlich Unsinn war. Ausgebildete Soldaten mit Pferden und Gewehren konnte man vielleicht erschrecken, wenn man sie mit Revolvern beschoss, vielleicht konnte man auch ein paar von ihnen verletzen oder gar töten. Aber besiegen konnten die Kinder sie nicht. Das hielt Jonan für ausgeschlossen.
Verdammt, ich muss etwas tun , erkannte er. Er wusste, was geschehen würde, und mit diesem Wissen konnte er nicht bloß tatenlos dasitzen und Däumchen drehen.
»Was ist los?«, wollte Pitlit wissen, der Jonans Unruhe bemerkt hatte.
»Unser feiner Prinz und seine Freunde sind auf dem Weg nach Paris – zu einer weiteren Runde Schießübungen auf lebende Ziele.«
»Echt?« Der Junge drängte sich ans Fenster, aber er kam zu spät. Die Reiter waren durch einen Torbogen verschwunden, der sie unter dem Südflügel hindurch zum äußeren Schlosshof und von dort zur Straße nach Osten bringen würde. »Diese Mistkerle. Hätten wir schon bei unserer ersten Begegnung auf der Handelsstraße gewusst, was die im Schilde führen, hätten wir sie aus dem Busch heraus abknallen können. Damit wäre
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