Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)
wie eine graue Maus aussehen, nicht wahr? Sie müssen wissen, dass die Art, wie man sich selbst präsentiert, an einem Ort wie diesem alles bedeutet.«
Er beugte sich näher und senkte die Stimme, damit die beiden Diener ihn nicht verstehen konnten – auch wenn ihnen das ohnehin schwergefallen wäre, da er mit Carya Arcadisch sprach. »Und, nein, ich hege keine unsittlichen Absichten Ihnen gegenüber«, ließ er sie wissen, als habe er ihre Gedanken gelesen. »Wenn ich mich vergnügen wollte, könnte ich beinahe jede Frau hier im Palast haben. Aber solche Ablenkungen interessieren mich nicht – zumindest nicht, solange ich mich in der Höhle des Löwen befinde.« Er hob die Kette aus dem Kästchen. »Also, darf ich?«
»Nun gut«, willigte Carya ein, die ihren überaus großzügigen Gastgeber nicht beleidigen wollte. Eigentlich ist er ja gar nicht mein Gastgeber, sondern mein Entführer , rief sie sich in Erinnerung. Angesichts der gegenwärtigen Umstände konnte man das allzu leicht vergessen. Cartagena hatte mit einem Schinder wie Inquisitor Loraldi nicht das Geringste gemein.
Sie schob ihren Zopf zur Seite und drehte sich um, sodass Cartagena ihr die Kette umlegen konnte. Sie passte wirklich ausgesprochen gut zu ihrem Kleid, wie sie sich in einem der Spiegel des Raums überzeugen konnte. Es war regelrecht unheimlich. Diese vollkommen unerwartete Wendung der Dinge hatte sie binnen zwei Stunden von einer Bettlerin zur Prinzessin gemacht – zumindest mehr oder weniger. Sie fragte sich, wann das böse Erwachen aus diesem Traum erfolgen würde.
Der Diener, der mit dem Decken des Tisches beschäftigt gewesen war, trat auf Cartagena zu. »Es ist angerichtet, Monsieur Ambassadeur.«
»Sehr gut, danke.« Cartagena wies Carya ihren Platz. »Bitte, kommen Sie, Carya. Setzen Sie sich.«
»Danke schön«, erwiderte sie, als sie sich auf dem von dem Diener eilig zurechtgerückten Stuhl niederließ. Unschlüssig ließ sie ihren Blick über die Speisen vor ihrer Nase wandern. Alles sah so köstlich aus, dass sie am liebsten mit beiden Händen ihren Teller vollgeladen hätte. Ganz spurlos war das tagelange Überleben allein von Reiseproviant nicht an ihr vorübergegangen.
»Greifen Sie ruhig zu«, forderte Cartagena sie auf. »Was möchten Sie essen? Wir haben Huhn und Lamm, Lachs, Kartoffelgratin und Bohnengemüse. Und zum Nachtisch gibt es eine hervorragende Mousse au fromage, also lassen Sie ein wenig Platz in Ihrem Magen.«
»Ich bin überwältigt«, gestand Carya. »Mit so einem Nachtmahl habe ich nicht gerechnet.«
»Nun, es darf auch aufrichtig bezweifelt werden, dass jeder zu später Stunde eintreffende Gast so empfangen wird. Aber deswegen dürfen wir keine falsche Scheu walten lassen. Es wäre eine Beleidigung für die Küche.« Der Botschafter schmunzelte. Dann blickte er, als seien sie ihm eben erst wieder eingefallen, zu den zwei wartenden Dienern hinüber und wechselte ins Francianische. »Sie können gehen. Wenn wir Wünsche haben, läuten wir.«
»Sehr wohl, Monsieur Ambassadeur.« Die Diener verneigten sich und zogen sich zurück.
»Es ist besser so«, fuhr Cartagena an Carya gerichtet fort, als die beiden Männer den Raum verlassen hatten. »Das Personal hier ist sehr diskret. Man vergisst leicht, wie viel es von dem mithört, was bei einem zwanglosen oder vertraulichen Beisammensein gesprochen wird. Und da auch die Diener des Mondkaisers, genau wie jeder Mensch, durch gewisse Gefallen oder Drohungen dazu zu bringen sind, anderer Leute Geheimnisse auszuplaudern, ist es manchmal besser, sie vor die Tür zu schicken. Selbst wenn das bedeutet, sich selbst den Wein einschenken zu müssen.« Er griff nach der Karaffe auf dem Tisch, um erst sein Glas und dann Caryas zu füllen.
»Das ist sehr klug von Ihnen«, pflichtete Carya ihm höflich bei.
»Man lernt, vorsichtig zu sein, wenn man so lange wie ich das Geschäft der Diplomatie betreibt.«
Es war eine Steilvorlage, die Cartagena so vielleicht gar nicht beabsichtigt hatte. Carya ließ es sich nicht nehmen, sie trotzdem zu nutzen. »Wie lange sind Sie denn schon Botschafter?«, fragte sie, während sie endlich begann, ihren Teller zu füllen.
Cartagena, der es ihr gleichtat, schmunzelte. »Ganz genau weiß ich das selbst nicht mehr. Aber sicherlich seit vor Ihrer Geburt.«
»Und woher stammen Sie? Kommen Sie aus Austrogermania?«
»Was lässt Sie das glauben?«
»Na ja, aus Francia sind Sie offensichtlich nicht. Aus Arcadion auch nicht, dafür
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