Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)
über breite Treppen zu niedriger gelegenen Teilen des Gartens. Das Ende konnte Carya im Dunkeln nur mehr erahnen. Die Laternen im hintersten Bereich des Gartens, die die Grenze zur großen Finsternis jenseits von Château Lune bildeten, funkelten so winzig und fern wie Sterne am Firmament.
An der Tür zu ihrem Zimmer klopfte es, und auf Caryas Aufforderung hin trat ein junger Diener ein. »Ich soll Euch ein Gewand bringen«, verkündete er und legte zum Beweis ein dunkelblaues Kleid auf das Bett. Daneben stellte er einen kleinen Karton und ein paar blaue Riemenschuhe mit flachem Absatz. Während er dies tat, warf er Carya verstohlene Blicke zu.
»Äh, danke«, sagte sie und schenkte ihm ein Lächeln, weil sie nicht wusste, was sie sonst machen sollte. Eine absurde Sekunde lang dachte sie, dass er vielleicht ein Trinkgeld erwarten könnte, und sie bedauerte, nur das eine Goldstück in der Tasche zu haben. Was für ein Unsinn , schalt sie sich gleich darauf. Ich bin am Hof des Mondkaisers, nicht in einer Herberge.
Der junge Diener verneigte sich und verließ wieder den Raum. Carya trat ans Bett und hob das Kleid hoch. Es war wunderschön. Der dunkelblaue Stoff schimmerte im Licht des Wandleuchters wie flüssiges Metall. Silberne Einsprengsel, Sternen am Nachthimmel gleich, zogen sich über den unteren Saum, die Hüfte und das Dekolleté. Das Kleid lag so schmeichelnd weich in ihren Händen, dass sie es am liebsten auf nackter Haut getragen hätte – was natürlich nicht ging, weil es absolut unschicklich gewesen wäre. Oder ist man hier in Francia womöglich anders als in Arcadion? Sie beschloss, noch besser auf ihre Umgebung zu achten. Schließlich wollte sie sich so gut wie möglich anpassen, damit sie zu einem Gast unter vielen wurde und unauffällig ihre Nachforschungen betreiben konnte.
Während sie noch darüber nachdachte, wie man sich am Hof eines Kaisers wohl am besten verhielt, entkleidete sie sich, wobei sie naserümpfend feststellte, dass ihre eigenen Sachen eine Wäsche gut gebrauchen konnten. Die silberne Kette mit dem Schlüssel, der ihre Kapsel öffnete, versteckte sie in der Schublade ihres Nachttisches. Es war nicht nötig, dass Cartagena ihn sah, der sicher wusste, worum es sich dabei handelte.
Nackt trat sie hinter den Wandschirm, um sich zu waschen. Leider gab es nur eine Wasserkanne, eine Schüssel und einen Schwamm. Was hätte sie nach den letzten Tagen, die sie durch Francia gewandert waren, für eine Wanne mit heißem Wasser gegeben! Aber sie wollte nicht undankbar sein. Immerhin war sie hier und am Leben. Damit hätte sie vor weniger als einer Stunde, als sie in Orly dem Tod in Form eines heranrasenden Panzerwagens in die glühenden Augen geblickt hatte, niemals gerechnet.
Nachdem sie fertig war, bürstete sie ihr Haar. Als sie den braunen Wasserfall im Spiegel betrachtete, der sich über ihre linke Schulter ergoss, musste sie daran denken, dass sie ihr Haar für Jonan eigentlich häufiger hatte offen tragen wollen. Seitdem sie das Dorf der Ausgestoßenen verlassen hatten, war dazu jedoch kaum Gelegenheit gewesen. Während ihrer Fahrt mit Kapitän Denning hatte der Seewind eine praktischere Frisur erfordert. Und auch in der Einöde westlich von Paris hatte sie ihre Haare stets zu einem Zopf geflochten getragen. Hier am Hof, zu ihrem blauen Kleid, würde es sicher atemberaubend aussehen, wenn sie es offen über den Rücken fallen ließ.
Aber für wen würde ich es offen tragen? , dachte sie, und ein Schatten huschte über ihre Züge. Für irgendwelche francianischen Höflinge. Jonan ist nicht da. Und ich habe keine Ahnung, wo er ist.
Daran, dass sie sich möglicherweise niemals wiedersehen würden, wollte Carya nicht glauben. Jonan würde sich ausmalen können, wohin sie gebracht worden war. Und er würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um einen Weg zu finden, zu ihr zu gelangen. Wir werden wieder zusammen sein , sagte sie sich. Und es wird gar nicht lange dauern.
Kapitel 18
M it einem entschlossenen Ruck begann Carya, ihr Haar zu einem Zopf zu flechten. Sie würde es nicht offen tragen, ganz gleich, wie gut es zu dem Kleid aussehen mochte. Nicht, bevor sie nicht wieder mit Jonan vereint war.
Nachdem sie fertig war, ging sie zum Bett hinüber. Wie sie es beinahe schon erwartet hatte, fand sie in dem Karton ein Untergewand und ein paar dünne, knielange Strümpfe. Sie zog beides an, dann streifte sie das Kleid über und schlüpfte in die blauen Schuhe. Die Schuhe waren ein
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