Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)
wenig zu eng, aber das Kleid passte zu ihrem Erstaunen beinahe wie angegossen. Cartagena musste ein enorm gutes Auge für Details haben, wenn er dem Bediensteten nur auf ein ungefähres Mustern hin Caryas Kleidergröße genannt hatte.
Einen Augenblick stand sie vor dem Spiegel und bewunderte ihren eigenen Anblick. Aus der schmutzigen Herumtreiberin mit der grauen Bluse und der braunen, ledernen Hose war eine Prinzessin geworden. Dieses Kleid gefiel ihr bedeutend besser als das schwarze, das sie damals von Rajaels Nachbarin geliehen hatte, um sich, als dekadente Tochter des Großbürgertums von Arcadion verkleidet, in den Tribunalpalast einzuschleichen. Sie fühlte sich weniger in einen frivolen Fetzen gezwungen, als in einen Stoff gewordenen Sternenhimmel gehüllt.
Innerlich beschwingt, doch nach wie vor peinlich darauf bedacht, ihren schmerzenden Fuß nicht zu sehr zu belasten, verließ Carya ihr Zimmer. Dabei wäre sie beinahe mit einem Wachmann zusammengeprallt, der gerade den Flur hinuntermarschierte. »Verzeihung«, sagte sie.
»Keine Ursache, Mademoiselle«, erwiderte der Uniformierte. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Carya schüttelte den Kopf. »Nein, danke, ich bin auf dem Weg zu einem Abendessen bei Botschafter Cartagena.«
»Dann wünsche ich viel Vergnügen.« Er tippte sich an die Mütze und gab den Weg frei.
Während sie sich noch fragte, ob ihr Gastgeber den Soldaten unauffällig im Flur postiert hatte, damit dieser sie ein wenig im Auge behielt, begab sich Carya die Treppe hinunter zu Cartagenas Gemächern. Sie klopfte an, und ein Diener öffnete ihr. Carya hätte gerne gewusst, über wie viele dieser dienstbaren Geister das Schloss wohl verfügte. Sie fing schon jetzt an, den Überblick zu verlieren.
Cartagenas Gemächer, die man durch einen schmalen Vorraum erreichte, erwiesen sich als deutlich geräumiger und edler ausgestattet als ihr eigenes Zimmer. Die Wände waren mit Marmor verkleidet, und Gemälde hingen daran. Außerdem lag die mit Stuck verzierte Decke sicher doppelt so hoch über ihrem Kopf, und die großen Fenster reichten hinunter bis zum Fußboden. Die Möbel schienen von erlesener Qualität zu sein, wobei die Art ihrer Fertigung sie älter aussehen ließ, als sie es vermutlich waren.
Das Speisezimmer, in dem Carya sich befand – ein benachbartes Schlafzimmer war durch eine offen stehende Doppeltür zu sehen –, wurde durch einen schweren Tisch beherrscht. Er stand in der Mitte des Raums und bot Platz für sechs Esser. Allerdings war nur für zwei Personen gedeckt, auch wenn Carya zweimal hinschauen musste, bis sie es glaubte. Die aufgetragenen Speisen, die gerade von einem weiteren Diener angerichtet wurden, hätten in Arcadion eine Großfamilie satt gemacht.
Im Türrahmen des Schlafzimmers tauchte Cartagena auf. Er trug noch immer dieselbe reich verzierte Kombination aus rot-weißer Jacke und Hose, aber er wirkte, als habe er sich kurz erfrischt. »Willkommen in meinem bescheidenen Domizil«, begrüßte er sie und kam auf sie zu. »Lassen Sie sich ansehen.« Er musterte Carya wie ein stolzer Vater, dessen Tochter sich zum Fest des Lichts besonders herausgeputzt hat. Zufrieden nickte er. »Das Kleid steht Ihnen ganz hervorragend. Ich muss dem Diener eine Belohnung zukommen lassen. Sie glänzen regelrecht im Schein des Hofes. Das gefällt mir.«
»Danke, Sie sind zu freundlich«, antwortete Carya und machte einen Knicks.
»Aber eine Sache fehlt noch«, verkündete Cartagena. Er griff in seine Jackentasche und zog ein flaches Kästchen hervor. Als er es öffnete, lag eine Kette darin, an der ein ovaler, mit einem großen roten Stein besetzter Anhänger befestigt war. »Ein Blickfang«, sagte Cartagena. »Und die Abrundung Ihres wundervollen Erscheinungsbildes.«
Carya blinzelte entgeistert. Sie war kein Juwelier, aber das Schmuckstück sah aus, als sei es viel zu viel wert, um es einer Streunerin wie ihr zu schenken. Ein Anflug von Misstrauen beschlich sie. Hatte Cartagena etwa ein ganz bestimmtes Interesse an ihr? Umgarnte der grauhaarige Mann sie nur deshalb, weil er Gefallen an ihrem Äußeren gefunden hatte und sich mit ihr vergnügen wollte? Sie trat einen Schritt zurück. »Ich … nein, das kann ich nicht annehmen.«
»Dann geben Sie mir die Kette zurück, wenn ich abreise«, sagte Cartagena schlicht. »Doch solange ich am Hof weile und Sie als meine Begleitung ausgebe, dürfen Sie ruhig ein wenig was hermachen. Wir wollen doch nicht, dass Sie unter den Hofdamen
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