Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)
»Verderben« herauszuhören.
»Ich habe plötzlich ein ganz mieses Gefühl, Jonan«, murmelte Pitlit. Er ließ die Trommel seines leeren Revolvers aufschnappen und versenkte die Linke in seiner Jackentasche, um nach neuen Patronen zu fischen.
Bevor Jonan Gelegenheit hatte, dem Straßenjungen auf seine Bedenken zu antworten, wurde in ihrem Rücken ein dumpfes Schaben laut, so als würde ein schwerer Riegel an der Innenseite des hölzernen Portals zur Seite geschoben oder aus seiner Halterung gehoben. Jonans Nackenhaare sträubten sich, und er nahm das Templersturmgewehr von der Schulter. Mit angespannter Miene richtete er es auf das Portal.
Mit einem dunklen Knarren, ein Ton, der durch das ganze dämmrige Kirchenschiff hallte, öffnete sich das Portal. Heraus trat ein Mann, und als Jonan ihn sah, war die sechsköpfige Mofabande auf dem Platz von einer Sekunde zur nächsten vergessen.
Er war sicher zweieinhalb Meter groß und musste an Masse locker das Fünffache von Jonan auf die Waage bringen. Sein hünenhafter Körper steckte in der krudesten Panzerung, die Jonan jemals gesehen hatte. Es dauerte mehrere Sekunden, bis er überhaupt begriff, was er dort sah. Und selbst dadurch wurde sein Staunen kaum geschmälert.
»Licht Gottes«, murmelte Pitlit.
Die Panzerung musste einst ein Frachtlader-Exoskelett gewesen sein, eine Maschine, in die ein Lagerarbeiter hineinsteigen konnte, um mithilfe von Kraftverstärkerservos Kisten zu verladen, die für einen normalen Menschen zu schwer waren. Darin ähnelte sie ein wenig Jonans alter Templerrüstung, nur bestand ein Frachtlader-Exoskelett im Wesentlichen aus einem Gerüst verschweißter Stahlrohre und Gelenke, in dessen Mitte sich ein Polster befand, auf dem sich Arbeiter stehend festschnallen konnten.
Dieser Mann hatte das Exoskelett jedoch ziemlich stark umgebaut. Arme, Beine und Torso waren mit Metallplatten bedeckt, die allem Anschein nach aus Motorwagen, Mülltonnen und anderen Quellen stammten. Sein Kopf steckte in einem Metallzylinder, in den Löcher für Mund und Augen geschnitten worden waren. Mit Farbe hatte er dem Anzug eine grausige Kriegsbemalung verpasst. Darüber hinaus hatte er halb verrottete Schenkelknochen und braunweiße, unterkieferlose Schädel auf die Schulterpartie und die Brust genagelt.
In den gepanzerten Händen hielt der Hüne ein schwarzes Maschinengewehr von einer Bauart, wie Jonan sie noch nie zuvor gesehen hatte. Es wirkte uralt. Trotzdem bestand an seiner Tödlichkeit kein Zweifel.
»Verschwindet von meinem Platz!«, brüllte der Mann auf Francianisch in Richtung der Mofabande und fügte noch einige Worte hinzu, die Jonan nicht verstand, von denen er aber annahm, dass es sich um Unflätigkeiten handelte. Um seine Worte zu unterstreichen, hob der Mann das Maschinengewehr und jagte den Mofafahrern eine donnernde Salve entgegen. Mit heulenden Motoren machte sich das Sechsergespann davon. Sie hinterließen nicht mehr als eine Staubwolke auf dem Platz.
Als sie verschwunden waren, drehte sich der massige Topfhelm des Hünen, und sein Blick richtete sich auf Jonan und Pitlit. Dunkle Augen funkelten hinter dem schmalen Sehschlitz. »Und nun zu euch«, knurrte der Mann, und in seiner Stimme schwang ein Tonfall mit, der Jonan einen Schauer über den Rücken jagte.
Kapitel 20
B litzschnell überschlug Jonan seine Möglichkeiten. Die Rüstung des hünenhaften Mannes sah massiv aus, bestand aber aus provisorischem Panzermaterial, das kaum die Festigkeit eines echten Templerkampfpanzers haben konnte. Wahrscheinlich würden die Kugeln seines Sturmgewehrs die Metallplatten durchschlagen. Wenn er Pech hatte, aber auch nicht. Ganz sicher würde seine Lederjacke nicht die Geschosse des Maschinengewehrs aufhalten. Darüber hinaus musste er nicht nur an sich, sondern auch an Pitlit denken. Im Grunde blieb ihm daher nur eine Wahl. Er musste mit Diplomatie versuchen, die Lage zu entschärfen.
»Wir wollen keinen Ärger«, sagte er in gebrochenem Francianisch. Auf die Gefahr hin, sich der Gnade des furchteinflößenden Fremden auszuliefern, ließ er sein Sturmgewehr los und zeigte ihm in einer beschwichtigenden Geste die leeren Handflächen. »Wir wollten uns hier nur vor dieser Bande verstecken. Hätten wir gewusst, dass in diesem Gebäude jemand lebt, dann hätten wir uns davon ferngehalten.«
Sein Gegenüber musterte ihn schweigend. Hinter ihm, im Halbdunkel des Kirchenschiffs war eine Bewegung zu sehen. Jonan konnte sich des Gefühls nicht erwehren,
Weitere Kostenlose Bücher