Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)
schien es aber auch spontan und befreit zu sein, eine Geste, die der Mauer aus Etikette, die zwischen ihnen bestand, einen weiteren Riss zufügte.
»Sehr gut«, bekannte er. »Ihr habt eine flinke Zunge. Ich muss mich davor in Acht nehmen, das sehe ich schon.« Mit gespieltem Tadel wedelte er mit einem Finger durch die Luft.
Der Diener kam und brachte dem Prinzen sein Essen. Er nahm es mit einem Nicken zur Kenntnis und scheuchte den Mann anschließend beiläufig fort.
»Ich wollte nicht respektlos klingen«, knüpfte Carya an das unterbrochene Gespräch wieder an.
»Ach, Unsinn.« Alexandre wischte ihren Einwand mit einer Hand weg. »Ich finde Eure Art erfrischend. Ihr seid noch unverdorben von den Gepflogenheiten höfischen Lebens. Ihr sagt, was Ihr denkt, und das macht Euch zu angenehmer Gesellschaft.« Er senkte die Stimme wieder. »Ganz abgesehen davon, dass Ihr in diesem Kleid absolut hinreißend ausseht.« Er grinste beinahe spitzbübisch und schob sich ein Stück Obst in den Mund.
Sie plauderten noch eine Weile weiter, während sie aßen. Der Prinz unternahm eine Handvoll weiterer wortgewandter Vorstöße in Caryas Richtung, die sie nicht ganz so elegant abblockte. Gegen ihren Willen musste sie zugeben, dass ihr dieser Austausch Spaß machte. Der Prinz besaß eine Ausstrahlung, die einen in den Bann ziehen konnte. Doch ihr entging auch nicht, wie die anderen Höflinge im Speiseraum ihr neidische Blicke zuwarfen. Alexandre mochte durch seine Macht über derartige Missgunst erhaben sein. Für Carya galt das nicht. Sie musste sich in Acht nehmen, denn Neid konnte unangenehme Früchte treiben, wie sie noch aus ihrer Zeit an der Akademie des Lichts in Erinnerung hatte.
Auf einmal tauchte eine junge Frau im Türrahmen auf. Sie musste etwa in Caryas Alter sein, auch wenn das unter der fast maskenartig dick aufgetragenen Schminke nicht mit letzter Sicherheit zu sagen war. Sie hatte ein reich verziertes, rot-blaues Kleid an, und ihr braunes Haar war zu einer komplizierten Zopffrisur geflochten. Da sie obendrein kostbaren Schmuck um den Hals und an den silbern behandschuhten Fingern trug und von zwei ihr nachfolgenden Mädchen begleitet wurde, musste es sich um eine hochgestellte Persönlichkeit des Hofes handeln. Vielleicht Alexandres Schwester?
»Alexandre«, sagte sie streng. »Da bist du ja. Ich habe dich schon überall gesucht.« Sie betrat den Raum und sorgte damit für erneutes Stühlerücken und ehrerbietiges Verneigen bei den Anwesenden. Es musste sich also wirklich um die Prinzessin handeln. Carya besah sie sich ein wenig genauer, während auch sie – zusammen mit Alexandre – aufstand. Sie sieht ein wenig aus wie ich , stellte Carya verblüfft fest. Sie könnte fast meine Schwester sein.
Der Gedanke jagte einen Adrenalinstoß durch ihren Körper. War diese Ähnlichkeit reiner Zufall oder hatte es damit etwas auf sich? Hatte Pitlit nicht noch gewitzelt, dass Carya am Ende die verlorene Tochter des Mondkaisers sein könnte?
»Aurelie«, begrüßte Alexandre sie. »Du hast mich gesucht?« Täuschte Carya sich, oder lag da ein Hauch von Schuldbewusstsein in seiner Stimme?
»Das sagte ich doch! Dein Vater möchte dich sehen. Er meinte, es sei dringend, also würde ich ihn lieber nicht warten lassen.«
Aurelies herrisches Auftreten verwirrte Carya einen Moment lang dermaßen, dass ihr erst verspätet auffiel, dass Aurelie nicht »unser Vater« gesagt hatte. Sie war also doch nicht Alexandres Schwester.
»Und warum schickt er dann keinen Boten, sondern dich?«, fragte der Prinz etwas ungehalten.
»Ich erbot mich freiwillig«, antwortete Aurelie spitz. »Mir kam zu Ohren, dass du dich im Südflügel herumtreibst, und ich wollte wissen, was dich an der Speisekammer der Gäste so interessiert.« Sie warf Carya einen verächtlichen Blick zu. »Nun verstehe ich es.«
»Du weißt nicht, was du redest«, fuhr Alexandre auf. »Und ich verbiete dir, weiterhin diesen Tonfall anzuschlagen! Das lasse ich mir von niemandem gefallen, auch nicht von meiner Versprochenen.«
Die Hitzigkeit seiner Worte hatte etwas Verstörendes, und Carya hätte sich am liebsten heimlich aus dem Raum gestohlen. Es kam ihr unanständig vor, den Prinz dabei zu beobachten, wie er aus der Haut fuhr und seine Versprochene anfauchte. Versprochene , dachte Carya. Also ist er im Begriff zu heiraten? Dieser Gedanke verstörte sie noch mehr, denn er hatte diesbezüglich keinerlei Andeutungen gemacht, und auch wenn sie darüber eigentlich
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