Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)
in die frühen Morgenstunden hinein vernahm sie immer wieder Stimmen und Schritte auf dem Flur. Einmal knallte es wie ein Pistolenschuss unten auf der Terrasse vor ihrem Fenster, gefolgt von einem hysterischen Frauenlachen. In Arcadion wäre so etwas undenkbar gewesen. Dort gingen die Menschen früh ins Bett und standen mit den Hühnern wieder auf.
Schließlich versank sie aber doch in einen traumlosen Schlummer, und als sie wieder erwachte, fiel durch den Spalt der zugezogenen Vorhänge bereits das helle Licht des späten Vormittags in den Raum. Verwundert setzte Carya sich auf und rieb sich die Augen. Keiner hatte sie geweckt. Aber warum sollten sie auch , ging es ihr dann durch den Kopf. Ich habe keine Verpflichtungen hier. Ich bin ein Gast, und wenn ich schlafe, schlafe ich. Niemanden stört es.
Sie stand auf, wusch sich und kleidete sich an. Obwohl ihr das blaue Kleid eigentlich zu edel erschien, um es am helllichten Tage und ohne festlichen Anlass zu tragen, streifte sie es erneut über. Ihr blieb kaum etwas anderes übrig. Außer ihrer doch sehr schmutzigen und wenig repräsentativen Reisekleidung sowie der hellen Bluse und dem schlichten braunen Rock, die ihr der Lux Dei am Tag ihrer Verhandlung gegeben hatte, besaß sie nichts zum Anziehen. Sie schlüpfte in die Schuhe und legte die Kette von Cartagena an, bevor sie in der beruhigenden Gewissheit, einen angemessenen Auftritt hinzulegen, den Raum verließ.
»Guten Morgen, Mademoiselle«, begrüßte sie ein Diener, der vor ihrem Raum stand.
Carya blickte verdutzt den Flur hinauf und hinunter, konnte jedoch keinen triftigen Grund dafür erkennen, warum der Mann sich hier aufhielt. »Haben Sie auf mich gewartet?«, fragte sie ungläubig.
»Jawohl, Mademoiselle.«
»Warum haben Sie mich nicht geweckt, wenn Sie eine Nachricht für mich haben?«
»Weil ich keine Nachricht für Sie habe. Mir wurde lediglich aufgetragen zu warten, bis Sie erwacht sind, und Ihnen dann den Weg zum Speiseraum zu weisen. Ich nehme doch richtig an, dass Sie etwas zum Frühstück essen möchten?«
»Ja … äh … gerne. Danke.«
Der Diener geleitete sie ins Erdgeschoss, wo es einen großen Raum gab, der als Speisesaal für die angesehenen Gäste des Südflügels diente. Zwei lange Tafeln füllten den Raum aus, auf denen mindestens dreißig Gedecke aufgetischt waren. Eine offizielle Sitzordnung schien es nicht zu geben, denn die wenigen Männer und Frauen, die gegenwärtig anwesend waren, hatten sich einfach in zwei losen Grüppchen zusammengefunden. Natürlich mochte es inoffizielle Regeln geben, die den Sitzplatz, der einer Person angemessen war, von ihrem Stand bei Hofe abhängig machten. Das würde Carya noch früh genug erfahren, sofern der Diener an ihrer Seite nicht geistesgegenwärtig genug war, sie richtig zu platzieren.
Sie bekam einen Stuhl ganz am unteren Ende der linken Tafel, was vermutlich kein besonders gutes Zeichen war. Aber Carya hatte kein Interesse daran, deswegen aufzubegehren. Es war ihr ganz recht, wenn etwas Abstand zwischen ihr und den anderen Höflingen herrschte, denn eigentlich wollte sie nur in Ruhe und ohne sonderlich aufzufallen etwas essen. Zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, dass ihr edler Aufzug nicht vollkommen aus dem Rahmen fiel. Wie es aussah, wurde hier rund um die Uhr darauf geachtet, sich seinen Mitmenschen möglichst vorteilhaft zu präsentieren. Was für ein Haufen eitler Schönlinge und eingebildeter Zicken , dachte Carya, als sie ihren Blick über die zwei Grüppchen schweifen ließ, die ihrerseits die Neuangekommene mit einer Mischung aus Neugierde und Herablassung begutachteten.
»Was darf ich Ihnen bringen?«, fragte der Diener.
Carya drehte sich auf ihrem Stuhl um und warf einen Blick zu dem kleinen Büffet hinüber, das an der Stirnseite des Raums vor den Fenstern zum Garten aufgebaut worden war. Einmal mehr verblüffte sie die Üppigkeit des Angebots. Sie fragte sich, woher der Mondkaiser die ganzen Lebensmittel nahm, die er hier am Hof servieren ließ. Die Bewohner des Umlands mussten einen Großteil ihrer Erträge als Tribut bringen.
Dieser Gedanke verdarb ihr beinahe den Appetit. Doch der Hunger diktierte ihr, zumindest eine kleine Mahlzeit zu sich zu nehmen, und so bat sie den Diener, ihr eine Auswahl an Speisen zu bringen. Während sie aß, überlegte Carya, wie sie nun weiter vorgehen sollte. Auf jeden Fall musste sie erneut mit Cartagena sprechen. Er wusste mehr, als er preisgegeben hatte, so viel stand fest.
Weitere Kostenlose Bücher