Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)
um den Hals trug. Unwillkürlich versteifte sie sich.
»Keine Sorge, Mädchen«, sagte der Mann, wobei er auf einmal Arcadisch sprach. »Alles ist gut. Ich bin ein Freund. Magister Milan ist mein Name. Ich diene dem Mondkaiser und allen anderen, die meine Dienste annehmen, als Hofastrologe.«
»Sie sind ein Sterndeuter?«, fragte Carya und verfiel dabei ebenfalls in ihre Muttersprache.
»Ja, so kann man es auch nennen.«
»Aber wie können Sie dann gleichzeitig dem Lux Dei folgen?« Sie deutete auf die Sonne. »Sterndeuter gelten doch als …« Das Wort Scharlatan lag ihr auf der Zunge, aber sie wollte den netten Magister nicht beleidigen.
»Ketzer?« Milan lachte gutmütig. »Ja, das mag sein. Und es war einer der Gründe, warum ich Arcadion vor vielen Jahren verlassen habe. Allerdings glaube ich nach wie vor an die Gnade des Licht Gottes. Nur weil der Lux Dei seine eigene Religion nicht mehr versteht, heißt das nicht, dass sie böse oder falsch wäre. In ihren Grundfesten liegt viel Gutes. Nur die Anbauten haben ihr ein paar hässliche Auswüchse verschafft.«
»So habe ich das noch nie betrachtet«, gestand Carya.
»Vielleicht hattest du nur nicht genug Zeit, darüber nachzudenken«, meinte Milan. »Es freut mich übrigens, eine vertraute Zunge zu hören. Es ist lange her, seit ich mit jemandem aus der alten Heimat plaudern konnte. Stammst du auch aus Arcadion?«
»Ja, und mein Name ist Carya«, antwortete Carya nickend. Aus einem Grund, den sie nicht so recht fassen konnte, hatte sie kein schlechtes Gefühl dabei, Milan ihren Namen und ihre Herkunft zu verraten. Vielleicht lag es daran, dass er rundweg freundlich und ehrlich wirkte.
Genau wie das Lächeln, das er ihr jetzt schenkte. »Ach, wie schön«, sagte er. »Du musst mir unbedingt von dort erzählen, wenn es deine Zeit in den nächsten Tagen erlaubt. Denn auch wenn ich hier glücklich bin, hängt ein Teil des Herzens doch das ganze Leben an den Orten der eigenen Kindheit.«
»Ja … natürlich. Gerne.«
»Dann sprechen wir uns also bald wieder. Bis dahin will ich dir einen Rat geben, Carya: Nimm dich vor Aurelie in Acht. Sie ist ein radikaler Geist, in jeder Hinsicht. So leidenschaftlich sie liebt, so sehr hasst sie auch, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt. Es mag wohl sein, dass ihre Macht auf Château Lune auf böse Worte beschränkt ist. Aber ein gezieltes Wort zum richtigen Zeitpunkt kann genauso töten wie eine vergiftete Klinge.«
Carya seufzte. »Danke. Genau das habe ich mir gewünscht.«
Kapitel 22
E s war früher Nachmittag, als Jonan und Pitlit sich auf den Weg zum Schwarzmarkt von Les Halles machten. Am Himmel zogen dunkle Wolken dahin, und es nieselte. Jonan holte die Capes aus seinem Beutel, die sie vor Wochen im Ödland vor den Mauern von Arcadion gekauft, des guten Wetters wegen aber bislang kaum gebraucht hatten. Eins zog er selbst an, eins warf er Pitlit zu. Dann fuhren sie mit dem Mofa los.
Jonan hatte eine Bestandsaufnahme ihrer Habseligkeiten gemacht. Wenn er sich von allen Fundsachen trennte, die sie im Laufe der Reise nach Paris gesammelt hatten, dazu dem Mofa, dem Werkzeug, dem Erste-Hilfe-Pack und dem Geld aus Arcadion, bekamen sie sicher genug zusammen, um die zehn Revolver kaufen zu können. Mit etwas Glück kamen sie sogar noch etwas günstiger davon. Bonasse hatte nicht explizit gesagt, dass die Waffen in erstklassigem Zustand sein mussten. Selbstverständlich hatte Jonan nicht vor, dem Hünen in dem Frachtlader-Exoskelett Schrott anzudrehen. Aber es musste ja auch nicht unbedingt fabrikneue Ware sein – wenn so etwas auf dem Schwarzmarkt überhaupt angeboten wurde.
Sie fuhren durch die verwilderte Grünanlage, die sich nördlich des Invalidendoms zu beiden Seiten einer ehemaligen Prachtstraße erstreckte. Das Gras am Wegesrand war hüfthoch und wurde von einem kleinen Wald verwachsener Bäume gesäumt. Am Ende der Grünanlage stießen sie auf eine Querstraße, die am Ufer des Flusses verlief. Die Seine, so nannte er sich, strömte braun und gemächlich an ihnen vorüber. Eine Brücke überquerte sie an dieser Stelle, die allerdings nur noch zur Hälfte existierte. Der andere Teil lag in Form mächtiger Steinbrocken im Wasser.
Jona hielt das Mofa an und ließ den Blick schweifen. An den Häuserfassaden bemerkte er deutliche Anzeichen der gewaltigen Explosion, die sich vor mehreren Jahrzehnten, in der Nacht des Sternenfalls, im nördlichen Paris ereignet hatte. So weit das Auge reichte, waren alle
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