Im Schatten des Mondlichts - das Erbe
konnte sie sich vorstellen. Iker verließ fast nie das Haus, warum sollte er also in diesem Fall eine Ausnahme machen?
Karsten kam ihr in den Sinn. Wenn sie ihn anflehte und bettelte, käme Karsten bestimmt mit. Doch dann bräuchten sie eine weitere Ausrede für Alice. Und Karsten hasste es, Alice anzulügen.
Nun musste sie nur noch herausfinden, wo beide Martíns zuletzt gelebt hatten; und dann Karsten überzeugen. Das würde sie morgen in Angriff nehmen.
Nach einem herzhaften Gähnen entschied sie sich, zurück in die Federn zu kriechen und sich besser noch einige Zeit an Roman zu kuscheln, bevor sie sich endgültig auf die kommende Nacht vorbereitete.
Fünf
In der zweiten Vollmondnacht verhielt sich Pilar zurückhaltend und ging Naomi aus dem Weg. Selbst für die Zweikämpfe mit Romina interessierte sie sich nicht. Die ganze Nacht lag sie nur am Rande der Lichtung zusammengekauert im Schatten der Büsche und gab vor, sich unwohl zu fühlen.
Romina ließ sie gewähren, wenn sie Pilar auch neckte, auf diese Weise nie eine gute Kämpferin zu werden. Pilars Verhaltensweise blieb Naomi ein Rätsel, und sie glaubte Pilar ihr angebliches Unwohlsein nicht, zumal weder sie selbst noch sonst jemand aus dem Clan jemals in verwandelter Gestalt über körperliche Schwächen geklagt hatte.
Romina behauptete sogar, das Gegenteil sei der Fall. Selbst wenn sich Romina in der Vergangenheit mit einer Grippe herumgeschlagen hatte, war von den Symptomen während der Nacht nichts mehr zu spüren, und sie fühlte sich stark und gesund. Kopf- oder Gliederschmerzen existierten nicht. Ihre physischen Beschwerden verschwanden vollständig, und sogar nach der Mondphase blieb meist nicht einmal ein Schnupfen übrig, der ihr später in menschlicher Gestalt hätte zusetzen können.
Naomi kam Pilars Passivität sehr entgegen. Sollte sie ihr ruhig ausweichen, damit konnte sie prima leben, und die Zweikämpfe, die sie mit Romina ausfocht, gestalteten sich mit jedem Angriff, den Naomi startete, heftiger, bis Romina letztlich eine Pause vorschlug.
Inmitten der Lichtung lagen sie sich gegenüber. »Warum trainierst du so verbissen?«, wollte Romina wissen. »Du gönnst dir keine Ruhephasen.«
»Tu ich das?« Naomi leckte sich über die linke Vorderpfote. »Vorher hast du dich über Pilars Faulheit beschwert. Außerdem dachte ich, hart zu trainieren wäre in diesen Stunden unser Ziel.«
»Du bewegst dich inzwischen flinker und wendiger, als alle anderen Clanmitglieder, die ich kenne.« Romina legte ihren Kopf auf dem Waldboden ab. »Früher, als wir noch reisten und uns mit fremden Mitgliedern getroffen haben, redeten wir auch viel; über unsere Familien, unsere Herkunft, unsere Pläne. Auch tauschten wir Informationen zu möglichen Feinden aus. Die damaligen Treffen verliefen ruhiger. Das vermisse ich.«
Naomi richtete sich auf und setzte sich auf die Hinterpfoten. »Du hast damals deine Familie verlassen, weil du Angst um sie hattest. Ich habe nicht vor, denselben Fehler zu begehen. Als ich mich zum ersten Mal verwandelte, war ich alleine, nur auf mich gestellt, ohne deine Unterstützung. Es fehlte nicht viel, und ich wäre dabei umgekommen, weil ich nicht in der Lage war, mich zur Wehr zu setzen. Das wird mir nie wieder passieren.«
»Bei deiner ersten Verwandlung lief alles schief. Kai hätte dort sein müssen. Das war seine Aufgabe.« Romina hob den Kopf und ihre gelben Augen funkelten im Mondlicht. »Du wirst nicht mehr alleine bei einer Verwandlung sein. Dafür werde ich sorgen.«
»Eben nicht. Du wirst dich nicht immer in meiner Nähe aufhalten können, um mich zu beschützen. Mein Ziel ist es, mich und meine Familie selbst schützen zu können.« Mit ihrer Pfote stieß sie Romina an. »Also, lass uns weitermachen. Ich werde mich ausruhen, sobald ich dich drei Mal nacheinander aufs Kreuz gelegt habe. Versprochen!«
In dieser Nacht dämmerte es bereits, als Naomi sich erschöpft zur Seite fallen ließ. Die Luft strich mit einer milden Brise über ihr verschwitztes Fell. Naomi hörte, wie der nächtliche Wald gemächlich erwachte. Die ersten Singvögel trällerten ihr Lied am Morgen.
Jede einzelne Sehne in ihrem Körper schmerzte vor Überanstrengung, aber sie hatte es fertiggebracht. Im Ernstfall hätte sie Romina drei Mal hintereinander die Kehle aufschlitzen können.
Doch anstatt stolz auf sie zu sein, reagierte Romina nach Naomis dritter erfolgreichen Attacke stinksauer und verkroch sich ans andere Ende der Lichtung. Wenn
Weitere Kostenlose Bücher