Im Schatten des Mondlichts - das Erbe
bückte und das Brot aufhob. »Ich mach dir ein Neues, okay?«
Schweigend sah Naomi ihm zu, wie er zwei Scheiben Brot neu belegte. Er reichte ihr eine Scheibe, bevor er in die andere hineinbiss. »Also? Was ist los? Du bist doch nicht nur wegen eines nächtlichen Imbisses heruntergekommen.«
»Nicht nur.« Naomi nippte am Tee. »Ich wollte Roman nicht wecken. Außerdem habe ich schlecht geträumt.«
»Pilar?«, fragte Iker nach.
Naomi aß hastig, um nicht vom Traum erzählen zu müssen.
»In letzter Zeit bereitet sie mir auch Kopfzerbrechen. Es ist für mich zwar okay, dass sie versucht, ihre Gedanken vor mir zu verbergen. Das ist es nicht. Aber sie versteckt sich förmlich, seitdem du hier bist. Gab´s was zwischen euch?«
»Vorgestern im Wald musste ich ihr eine Lektion erteilen, nachdem sie mich attackiert hatte. Deswegen geht sie mir aus dem Weg; und auch Roman. Ich habe ihr gedroht, aber nur, weil sie mich angegriffen hatte.« Mit einer trotzigen Bewegung schnürte sie ihren Bademantel enger zusammen. »Mein ursprünglicher Plan war, mit ihr zu reden, aber sie griff mich grundlos an. So etwas lasse ich mir nicht gefallen. Es ist ihre Schuld.«
»Naomi, es geht nicht um Schuldzuweisungen. Ich versuche nur herauszufinden, was in Pilar vorgeht.« Iker gähnte.
»Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Hauptsache sie lässt uns in Ruhe.« Naomi stapfte aus der Küche. »Gute Nacht, Iker. Vielleicht wäre es am besten, ihr würdet sie vor die Tür setzen.« Ohne sich umzudrehen oder eine Antwort abzuwarten, ging sie nach oben.
Ihre heftigen Worte lagen ihr schwer im Magen. Sie konnte sich ihre Zickigkeit nur damit erklären, dass Pilars Anwesenheit an ihren Nerven zerrte. Die Art, wie sie alle still beobachtete; der Angriff im Wald; das Verbergen ihrer Gedanken vor Iker; dieser merkwürdige Traum, und vermutlich plagte sie bis zu einem gewissen Grad doch die Eifersucht. Sicher, es wäre ihr lieber, wenn Pilar verschwände, aber wo sollte sie hingehen? Allein war dieses Leben kaum vorstellbar, und Pilar konnte sich ebenso wenig aussuchen, in wen sie sich verliebte, wie sie selbst.
Iker würde eine Lösung einfallen. Er kannte Pilar besser als jeder andere hier im Haus.
Naomi kuschelte sich in die Federn, schob behutsam ihre kalten Füße zu Roman hinüber und schloss die Augen, bis ihr siedend heiß einfiel, dass am kommenden Vormittag der Spanischunterricht auf dem Plan stand. Sie hatte weder gelernt noch das Unterrichtsbuch auch nur zur Hand genommen. Die Spanischstunden hatte sie schlicht wegen ihres Ärgers mit Pilar vergessen. Sie versprach sich selbst, sich künftig mehr Mühe zu geben. Das war sie nicht nur sich, sondern auch Romina schuldig.
Sechs
Karsten saß bereits im Straßencafé vor einem Milchkaffee, das Gesicht der Sonne zugewandt und die Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen. Naomi begrüßte ihn mit einem Küsschen auf die Wange, bevor sie eine verzweifelte Grimasse schnitt, die Hände zum Himmel reckte und sich auf einen freien Stuhl fallen ließ. »Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwer ist, Spanisch zu lernen.«
»Was denkst du, warum ich mich für das ERASMUS-Projekt angemeldet habe? Und du bist wenigstens im richtigen Land. Ich habe mich in Deutschland damit herumgeschlagen und in Barcelona kaum was verstanden, obwohl ich dachte, ich hätte es schon voll drauf!« Karsten schüttelte den Kopf. »Du hast gerade mal drei Vormittage hinter dir und willst gleich wieder alles perfekt beherrschen.« Er winkte dem Kellner. »Das kannst du bei Sprachen vergessen!«
Nachdem sich Naomi ein Wasser bestellt hatte, beugte sie sich zu Karsten hinüber und sah ihn eindringlich an. »Ich brauche deine Hilfe.«
»Warum habe ich so etwas schon geahnt?«, erwiderte Karsten mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Sie hob die Schultern und legte den Kopf schief. »Weil ich dir nichts vormachen kann?«
»Also, was gibt´s?«
»Unter Dorotheas Bett stand eine Kiste mit Unterlagen, die ich durchgesehen habe. Darunter befanden sich Notizen, alte Fotos und vage Vermutungen über ihre Abstammung. Leider nichts Handfestes. Trotzdem glaubte Dorothea, dass ein Martín Cortés zu ihren Vorfahren gehörte. Ich habe den Namen im Internet gefunden.« Naomi legte eine kurze Pause ein. »Wenn ich die Jahreszahlen mit dem Geburtsjahr von Dorothea vergleiche, kommt von den beiden eigentlich keiner in Betracht, aber nachdem deren Vater uneheliche Kinder am laufenden Band zeugte, trieb es
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