Im Schatten des Mondlichts - das Erbe
Naomi es recht bedachte, konnte sie die heftige Reaktion ihrer Urgroßmutter nachvollziehen. Bisher war sie als Siegerin aus den Zweikämpfen hervorgegangen und plötzlich war sie die Besiegte. Das kratzte am Selbstbewusstsein. Naomis Ego hätte es einen gewaltigen Riss verpasst. In diesem Punkt verhielten sie sich ähnlich. Sie dachte an einen verlorenen Wettkampf zurück, wo ein rangniederer Karategegner gegen sie gewonnen hatte. Ihr angeschlagenes Ego hatte sie über Monate hinweg doppelt so hart trainieren lassen, als normalerweise üblich. Erst als sie gegen einen ranghöheren Gegner gesiegt hatte, schaffte sie es, über die damalige Niederlage hinwegzukommen.
Dieser Ehrgeiz lag offensichtlich in der Familie.
Der Himmel über den Baumspitzen färbte sich purpurn. Naomi rollte sich auf den Rücken und blickte in das immer heller werdende Sternenzelt. Den Vollmond vermochte sie nicht mehr über sich auszumachen.
Zeit, sich an ihren Platz unter den jungen Aleppokiefern zu legen, um dort im Schutz der Büsche den Morgen zu erwarten.
Nachdem Romina den Wagen in der Einfahrt abgestellt hatte, sprang Pilar aus dem Fahrzeug. »Ich geh schlafen. Bis Morgen!«
»Du kommst auch nicht zum Abendessen?«, fragte Iker, der an der Haustür stand und Pilar, die kopfschüttelnd verneinte, mit verwirrtem Gesichtsausdruck hinterhersah.
»Weißt du, was mit ihr los ist?«, wollte Romina wissen.
Naomi küsste Roman zur Begrüßung und sah Iker an. Roman blickte von Iker zu Romina, dann zu Naomi. »Sie war gestern Nachmittag schon so merkwürdig, als sie von ihrem Vater zurückkehrte. Ist was passiert?«
»Nicht, dass ich wüsste«, erwiderte Naomi, obwohl sie sehr wohl wusste, warum Pilar ihr aus dem Weg ging und sich Roman gegenüber abweisender verhielt. »Iker?«
»Keine Ahnung«, meinte Iker und zuckte hilflos mit den Schultern. »Entweder sie denkt gar nichts, oder sie hat einen Weg gefunden, ihre Gedanken zu blockieren.«
Romina stemmte die Arme in die Seite. »Wie kann sie gar nichts denken? Das geht nicht. Jeder denkt!«
»Im Moment dachte sie nur ans Schlafen. Trotzdem ist es seltsam. Sie wiederholte diesen Gedanken mehrfach ...«
»... und trickst dich damit aus«, erklärte Naomi. »Raffiniert.« Und wenn sie ihre Gedanken bewusst unterdrückt, dann heckt sie etwas aus, dachte Naomi.
»Wie kommst du darauf?«, hakte Iker nach.
»Ich sollte es wie Pilar halten und nur Blödsinn in deiner Gegenwart denken.«
»Lasst uns nachher darüber reden, okay? Naomi hat mich heute Nacht fix und alle gemacht. Ich spüre jeden gottverdammten Knochen im Leib.« Sie drückte sich an Iker vorbei, stoppte kurz vor Naomi und lächelte, bevor sie ihr auf die Schulter klopfte. »Tolle Leistung! Aber das nächste Mal bekommst du es doppelt zurück.«
»Klar, Uroma«, scherzte sie. Sofort war von der leichten Spannung zwischen ihnen nichts mehr zu spüren, was Naomi erleichterte. Romina war also doch stolz auf sie und trug ihr die Niederlage nicht weiter nach.
*
Pilar schloss ihre Zimmertür und ließ sich rücklings aufs Bett fallen. In ihrem Kopf tobte ein Sturm, der am Vortag wie ein Tornado über sie hinweggefegt war; mit dem gewaltigen Unterschied, dass ein Tornado irgendwann weiterzog und man sich im Anschluss um das angerichtete Chaos kümmern konnte. Der Sturm in ihrem Kopf verzog sich aber nicht, im Gegenteil, er wütete immer heftiger.
Die Folgen, die diese Nachricht von Sammy heraufbeschwor, vermochte sie beim besten Willen nicht abzuschätzen. Der Anruf ihres Vaters am Vortag hatte sie überrascht, und seine Aufregung hatte sich sofort durch das Telefon auf sie übertragen. Unmittelbar nach dem Telefonat war sie zu ihrem Vater gerast. Etwas musste geschehen sein. In ihrer Eile hatte sie sogar vergessen, den Zündschlüssel abzuziehen und das, obwohl sie sehr wohl wusste, wie viele Fahrzeuge in Barcelona gestohlen wurden. Ihr Vater hatte sie bereits im Eingangsbereich erwartet. Dort hielt er ihr die Karte vor die Nase und fragte, in welchen Schwierigkeiten sie stecke. Ihr Gehirn weigerte sich die harmlosen Worte aufzunehmen, die ihre Augen lasen: Mit herzlichen Grüßen, Sammy!
Als sie fragte, wo die Karte gelegen habe, wich alle Farbe aus dem Gesicht ihres Vaters. Er zog sie mit sich die Stufen nach oben und öffnete die Zimmertür zu seinem Schlafzimmer. Mit angewidertem Gesichtsausdruck deutete er auf sein Bett. Darauf lag ein zerfledderter, toter Vogel. Ohne diese Mitteilung hätte man annehmen
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