Im Schatten des Mondlichts - das Erbe
Zustände?«
»Die Politiker tun ihr Möglichstes.« Brenda schnaubte. »Du würdest dich wundern, wie viele Analphabeten es in den USA gibt. Und sei dir sicher, in Deutschland wirst du auch genügend Menschen finden, wenn du die Augen offenhältst. Viele sind es jahrelang gewohnt, dieses Unwissen vor ihren Mitmenschen zu verbergen. Sie funktionieren einfach.«
Darüber hatte Naomi noch nie nachgedacht. Konnte das tatsächlich wahr sein? Sie konnte es sich nicht vorstellen.
»Dort drüben. Komm mit.« Brenda ging an sieben Tischen vorbei und stellte sich unauffällig an die Seite. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ichtaca hat sich kaum verändert. Er wirkt nur wenig älter, als damals ... nicht zu fassen.«
Naomi betrachtete den Mann, der auf dem Stuhl vor dem Schreiber saß und sich mit ihm unterhielt, während dieser seine Finger über die mechanische Schreibmaschine fliegen ließ. Da sie nur seinen Rücken sehen konnte, erkannte sie lediglich einen kräftigen und muskulösen Körperbau. Die glatten, schwarzen Haare trug er offen, und sie reichten ihm bis zur Taille.
Naomi lächelte über ihre eigene Einfältigkeit, als sie erkannte, dass Ichtaca mit Jeanshosen und grauem T-Shirt bekleidet war. Natürlich trugen er und seine Freunde ihre Tracht nur auf dem Zócalo. Brenda hatte ihr schließlich erklärt, sie würden dies tun, um auf sich und ihr Volk aufmerksam zu machen. Vermutlich stellte es auch eine Möglichkeit dar, etwas Geld zu verdienen, das ihnen die Touristen für ihre Darbietung zahlten.
Nach zwanzig Minuten erhob sich Ichtaca von seinem Platz. Mit einem Briefumschlag in Händen trat er zurück und gab den Stuhl für den nächsten Kunden frei.
Naomi blieb die Spucke weg, als sie in Ichtacas Gesicht blickte. Noch nie hatte sie einen solch attraktiven Mann gesehen. Ebenmäßige Gesichtszüge, eine kräftige, sanft gebogene Nase, ein markantes Kinn, volle Lippen und Augen, die glänzten, wie ein Diamant im Mondlicht. Naomi sah die bewundernden Blicke der umstehenden Passanten, die Ichtaca nicht zu bemerken schien. Sein kräftiger Körperbau und die stolze Haltung unterstrichen seine Schönheit.
Brenda musste gesehen haben, wie Naomi Ichtaca anstarrte. »Ein fantastisch aussehender Mann, nicht wahr?«
Als Naomi sie verwundert anblickte, setzte Brenda hinterher: »Ich bin zwar Ordensschwester, aber ich habe trotzdem Augen im Kopf.« Brenda folgte Ichtaca die Straße entlang.
Nachdem sich die Menschenmenge etwas lichtete, rief sie: »Panolti Ichtaca!«
Ichtaca drehte sich um und blieb wie angewurzelt stehen. Einen Moment lang betrachtete er Brenda, bis er sie offensichtlich erkannte. Mit strahlendem Lächeln trat er auf Brenda zu, begrüßte sie und ließ Naomi nicht einen Moment aus den Augen.
Die Unterhaltung verlief in der Aztekensprache Náhuatl und Naomi wand sich unter Ichtacas durchdringendem Blick.
»Könntest du fairerweise übersetzen?«, fragte Naomi nach einigen Minuten, nachdem Brenda keinerlei Anstalten machte, sie in die Unterhaltung mit einzubeziehen.
»Ich erkläre dir alles später.« Brenda wandte sich wieder Ichtaca zu und unterhielt sich mit ihm, ohne Naomi zu beachten.
Da Naomi Ichtacas Blicke nicht deuten konnte und es ihr unangenehm war, angestarrt zu werden, suchte sie nach einem Weg, seinen aufmerksamen Augen zu entkommen. Auf der Plaza Santo Domingo hatte sie eine Parkbank gesehen. Dort könnte sie sich hinsetzen und warten, oder sie könnte auch zurück ins Hotel gehen. Sie scharrte mit der Fußspitze über den Asphalt und überlegte, ob sie die beiden tatsächlich alleine lassen sollte. Etwas in ihr sperrte sich dagegen. Wenn sie auch kein Wort verstand, so wäre es dennoch besser, hierzubleiben und zu beobachten, wie das Gespräch weiter verlief. Die Sprache hörte sich leicht kehlig an, besaß jedoch eine angenehme Klangfarbe.
Brenda nickte mehrfach, während Ichtaca auf sie einredete. Ihr Gesichtsausdruck wirkte gequält, als habe sie etwas erfahren, was ihr zusetzte. Nach etwa fünfzehn Minuten wandte sich Brenda an Naomi. »Heute Mittag fahren wir zu Nopaltzin. Ein Freund von Ichtaca wird uns hinbringen. Er selbst fährt voraus, um noch vorher mit seinem Vater sprechen zu können.«
Naomis Gedanken rasten. Sie würde tatsächlich noch an diesem Tag den Aztekenhäuptling treffen? Er musste etwas über sie wissen. Sonst hätte die Gruppe auf dem Zócalo nicht so merkwürdig reagiert. Ihre Kultur war Naomi fremd und im Grunde fürchtete sie sich davor, was
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