Im Schatten des Mondlichts - das Erbe
Naomi wusste nicht, ob sie dort in Sicherheit wären, aber sie wollte Roman für den Fall beruhigen, dass sie sich nicht melden konnte. »Schatz, ich muss los. Schlaf weiter, ja? Ich liebe dich.«
Sie hörte, wie Roman den Telefonhörer küsste und flüsterte, dass er sie liebte, vermisste und sie nie wieder alleine fort lassen würde. Naomi legte auf. Nach dieser Tour gäbe es keine Reisen mehr ohne Roman, davon war sie überzeugt.
In der Hotellobby warteten bereits alle Drei auf Naomi. Brenda hatte zwischenzeitlich an der Rezeption ihre Abreise angekündigt und den Brief dort zum Versand abgegeben.
Dreizehn
Vor dem Hotel stand ein hochgewachsener junger Azteke. Naomi wunderte sich, wie schnell sie es schaffte, ihn zwischen den restlichen mexikanischen Einwohnern zu erkennen. Auch er hatte edle Gesichtszüge, wenn sie auch nicht so ebenmäßig schienen, wie die von Ichtaca. Er stellte sich als Matlal vor und ging voraus über den Zócalo zum U-Bahn-Eingang.
Brenda kaufte fünf Tickets für eine Fahrt durch die untertunnelte Stadt. Als die Linie 2 hielt, stiegen sie in die überfüllte U-Bahn und schaukelten bis zur nächsten Station. Dort wechselten sie in die Linie 1, die sie nach Südwesten brachte. Brenda hatte sie darauf hingewiesen, sich nicht miteinander zu unterhalten, sondern sich auf das eigene Gepäck zu konzentrieren. Diebstähle in der Metro passierten im Sekundentakt und sie sollten die Fingerfertigkeit der Diebe nicht unterschätzen. Naomi stellte ihre Reisetasche zwischen die Beine, hakte eine Trageschlaufe um ihren Knöchel und trug den Rucksack vor die Brust geschnallt. Nach vierzig Minuten in dieser stickigen und heißen Röhre stiegen sie an der Endstation Observatorio aus. In diesem Moment wusste Naomi, dass sie sich niemals mit U-Bahn-Fahrten in einer Großstadt anfreunden würde. Wie Frankfurter Würstchen in einem Glas aneinandergepresst, rieb man sich an seinem Nachbarn und kam sich dabei näher, als man einem Fremden kommen wollte. In dieser überfüllten Kabine könnte man problemlos ohnmächtig werden, ohne umzufallen.
Erleichtert stieg Naomi aus. »Bin ich froh, wieder draußen zu sein.«
Leandra nickte zustimmend und atmete kräftig ein und aus. »Kurzzeitig blieb mir wirklich die Luft weg.«
Brenda grinste. »Statt euch zu beklagen, solltet ihr besser kontrollieren, ob ihr eure Sachen noch habt.«
Leandra schlug sich auf die Brust. »Meine Brusttasche ist da. Mehr benötige ich auch nicht.«
Naomi öffnete den Reißverschluss ihres Rucksacks und griff in die Seitenlasche, wo sie Geld und Papiere verstaut hatte und nickte im selben Moment, als Romina sagte: »Meine Reisetaschenlampe hat den Besitzer gewechselt, aber sonst ist alles da.«
»Wenn´s weiter nichts ist, dann können wir los«, sagte Brenda.
Matlal hielt auf der Straße zwei Taxen an. Es handelte sich um ein gelbes und ein grünes VW-Käfer-Taxi. Naomi, Romina und Leandra stiegen in das grüne Taxi. Der Beifahrersitz fehlte dieses Mal komplett, was den Einstieg zur Rückbank erheblich erleichterte. Brenda saß mit Matlal im gelben Käfer und fuhr voraus.
Naomi beobachtete verwundert, wie es ihr Fahrer schaffte, das andere Taxi nicht aus den Augen zu verlieren. Jedes vierte Fahrzeug auf der Straße war ein gelber VW-Käfer. Die Fahrt führte nach Westen, das Verkehrschaos lichtete sich und die Umgebung veränderte sich deutlich. Auf Naomi wirkte das flache Land unberührt. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Es war geradezu eine Erholung nach der hektischen und lauten Stadt. Die Luft roch anders; frischer und sauberer.
Die Straße schlängelte sich durch die dicht bewachsene Gegend. Zwischen Eichen und Birken reckten sich Palmen in den azurblauen Himmel. Naomi entdeckte am Wegesrand Bananenstauden mit großen, dunkelgrünen Blättern, an deren Stamm entweder eine Fruchtdolde zum Himmel wuchs oder eine auberginenfarbene Blüte hing, deren Form Naomi an eine faustgroße Kaffeebohne erinnerte. Fasziniert von den unterschiedlichen Pflanzen ließ Naomi die Umgebung an sich vorüberziehen, bis vor ihnen grünbewachsene Berge auftauchten.
Nach einer weiteren Stunde wurde die Straße schmaler und sie erreichten am Fuße eines Bergmassivs einen Ort. Die eingeschossigen Häuser waren kunterbunt angestrichen, wirkten klein und hatten vorwiegend ein betoniertes Flachdach, auf dem eine Fernsehantenne und ein Wassertank standen. Der bunte Anstrich zeigte sich oftmals nur auf der Frontseite des Hauses; auf den
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