Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Schatten des Mondlichts - das Erbe

Im Schatten des Mondlichts - das Erbe

Titel: Im Schatten des Mondlichts - das Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.J. Bidell
Vom Netzwerk:
gestern Abend die Nase geputzt hatte, war ihr Taschentuch schwarz gewesen. Die Auspuffgase und der Straßendreck mussten sich direkt in ihrer Nase festgesetzt haben.
    Brenda zog Naomi von den Demonstranten weg und eilte nach Westen auf die Einkaufsarkaden zu. Sie schien jemanden entdeckt zu haben, der ihr weiterhelfen konnte.
    Naomi bemerkte eine Folklore-Gruppe. Die jungen Männer trugen kunstvoll geschmückte Lederbrustschilde, einen mit Federn bestickten Lederschurz und eine beeindruckende, ein Meter in die Höhe ragende Federkrone, deren blau, rosa, grün und schwarz-weiß gestreifte Federn symmetrisch an einem mit Symbolen verzierten Helm befestigt waren. Um die Hand- und Fußgelenke waren schmuckverzierte Lederriemen geschlungen.
    Naomi näherte sich langsam. Die Erscheinung dieser hochgewachsenen Männer erschreckte sie. Die Mexikaner, die sie bisher hier gesehen hatte, waren eher von kleiner Statur, mit kurzem Hals und krummen Beinen. Zumindest hatte Naomi diese bisher so wahrgenommen. Die Aztekenmänner maßen über einen Meter achtzig und strahlten eine ungeheuere Selbstsicherheit aus, was sich nicht nur in ihrer aufrechten Haltung widerspiegelte, sondern auch in ihrem Gesichtsausdruck.
    Während Brenda mit großen Schritten auf die Gruppe zuging, verlangsamte Naomi ihren Schritt, um jedes Detail in sich aufzusaugen. Den Helm des einen Indio zierte eine aufgemalte Schlange, den Helm des anderen ein Adlergesicht. Als sie erkannte, welches Symbol auf dem nächsten Helm angebracht war, schlug sie sich die Hand vor den Mund.
    Ein Jaguarkopf.
    Naomi verharrte auf der Stelle und betrachtete den Helm, während Brenda den Indio ansprach. Als Brenda in ihre Richtung zeigte, spürte Naomi förmlich, wie ein Ruck durch die Gruppe ging.
    Unverwandt starrten sie Naomi an.
    Verlegen wandte sie den Blick ab.
    Brenda winkte sie zu sich, doch Naomi zog es vor, an Ort und Stelle zu bleiben. Es nutzte ihr nur wenig. Die Gruppe war offenbar neugierig geworden und folgte Brenda, die sich auf dem Weg zu ihr befand.
    Naomi atmete tief durch und überwand sich aufzusehen. Wovor fürchtete sie sich? Es gab keinen Grund, trotzdem weckte der Anblick dieser Männer ein merkwürdiges Gefühl in ihr.
    Brenda blieb neben ihr stehen. »Das sind die Krieger, die normalerweise mit Ichtaca auf den Zócalo kommen. Ichtaca ist bei den Schreibern. Ich werde ihn dort suchen.«
    Brenda stellte Naomi in einer Sprache vor, die sie vorher noch nie gehört hatte. Die Männer starrten sie immer noch fasziniert an. »Sie sprechen kein Spanisch, zumindest nicht so gut, dass ich sie verstehen könnte. Außerdem ziehen sie es vor, Náhuatl zu sprechen.« Brenda seufzte. »Langsam fange ich an zu glauben, an eurer verrückten Geschichte könnte etwas Wahres sein. Ich hatte bisher meine Zweifel, aber die Krieger erkannten dich auf den ersten Blick als Seelenbegleiterin. Sie sagten, du seist die Erste, die sie zu Gesicht bekommen haben. Obwohl Ichtaca damals auch in mir eine Seelenbegleiterin sah, scheint dich eine besondere Aura zu umgeben.«
    »Was wissen sie über mich?«, fragte Naomi.
    »Selbst wenn ich sie danach frage, sie würden mir niemals antworten. Es steht ihnen nicht zu.« Brenda sagte etwas auf Náhuatl und wandte sich wieder an Naomi. »Und wir gehen jetzt zu den Schreibern.«
    Unfähig zu denken, folgte Naomi Brenda über den Zócalo, weiter über die Kreuzung bis hin zu einem anderen Platz, der Plaza Santo Domingo. Die Plaza trug denselben Namen, wie die dort stehende Kirche. Daneben saßen Frauen und Männer an kleinen Tischen, vor sich eine mechanische Schreibmaschine. Vor den Tischen befand sich jeweils ein Stuhl, und eine Menschenschlange wartete darauf, an die Reihe zu kommen.
    »Ichtaca kann weder Lesen noch Schreiben, und sobald er oder Nopaltzin Post erhält, geht Ichtaca hierher, lässt sich den Inhalt vorlesen und das Antwortschreiben verfassen. Die Schreiber lesen die Briefe nicht nur vor, sie geben auch Ratschläge und tippen anschließend die Antworten für ihre Kunden.« Brenda suchte unter den Wartenden nach dem Azteken.
    Naomi betrachtete die langen Schlangen. Geduldig standen die Leute in der Reihe, um zu erfahren, was in den Dokumenten stand. Eine tiefe Traurigkeit breitete sich in ihr aus. Wie viel einfacher könnte das Leben dieser Menschen verlaufen, wenn sie wenigstens eine schulische Grundausbildung absolvieren könnten? Es würde unendlich viel erleichtern. »Tut die Regierung denn gar nichts gegen diese

Weitere Kostenlose Bücher