Im Schatten des Mondlichts - das Erbe
beiden mussten sich vor Jahren heftige Dispute geliefert haben. Brenda hatte von Respekt gegenüber den jeweiligen Religionen und Glaubensrichtungen erzählt, und dass sie damals eine Sinnkrise durchlebt hatte, die sie durch ausgiebiges Beten hinter sich gelassen hatte. Trotzdem war sie nun ohne ihre Tracht gekommen, was bedeutete, dass Brenda mehr ahnen musste, als Naomi bisher angenommen hatte. Im Gegensatz zu ihr war es Nopaltzin sofort aufgefallen.
»Wie kommt es, dass du so gut Englisch sprichst? Hast du endlich Lesen und Schreiben gelernt?« Brendas Augen blitzen auf, als sie diese Frage stellte.
Nopaltzin zeigte auf die Dachantenne. »Amerikanisches Fernsehen. Ich wusste, dass du eines Tages kommen würdest ... Ichtaca sagte mir, dein Náhutal sei immer noch gut. Doch darauf konnte ich mich nicht verlassen, also habe ich versucht das Englisch, das du mir beigebracht hast, zu erhalten.«
»Was Ihnen ausgezeichnet gelungen ist«, mischte sich Romina ein. »Wie können Sie uns weiterhelfen?«
Der alte Mann lachte trocken. »Tut mir leid. Helfen kann ich nicht, das müsst ihr schon selbst tun.«
Romina rutschte auf die Kante ihres Schaukelstuhls, stützte die Ellbogen auf die Knie und sah Nopaltzin in die Augen. »Sie wissen, was wir sind und Sie erkennen uns, kaum dass wir Ihnen gegenüberstehen. Also müssen Sie mehr über uns wissen.«
Die tiefen Falten auf seiner Stirn wurden zu dicken Wulsten, als er sie runzelte. »Ich weiß, was ihr seid und wie ihr dazu geworden seid. Aber helfen kann ich euch nicht.«
Ein junges aztekisches Mädchen, gekleidet in einen bunten weit schwingenden Rock und eine weiße Rüschenbluse, brachte auf einem Holztablett drei Flaschen Wasser und sechs Gläser. Sie stellte alles auf dem Tisch ab, bevor sie sich die Besucher ansah. Kaum streiften ihre Augen Naomi, blickte sie zu Boden und eilte zurück ins Haus.
»Selbst das Mädchen hat mich erkannt, und sie fürchtet sich vor mir, obwohl ich niemandem etwas antun würde«, flüsterte Naomi.
Naomi fing Nopaltzins Blick auf. Seine dunklen Augen blitzen wach und intelligent. »Das war nicht immer so.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Romina nach.
»Ihr habt Verderben über unser Volk gebracht.«
Naomi schüttelte unwirsch den Kopf. »Niemand von uns war jemals in Mexiko. Wie sollten wir die Verantwortung für Dinge in einem Land tragen, das wir niemals betreten haben?«
Leandra knetete ihre Hände. Ein Zeichen dafür, dass sie nervös war. Naomi lächelte ihr unsicher zu, denn Nopaltzins vage Andeutungen verwirrten sie.
»Ich habe in eurem Land niemandem etwas getan. Ich war hier, um zu helfen. Vor allem, um deinem Volk zu helfen, das zunehmend verarmt, von euren heiligen Stätten zurückgetrieben wird und ohne Zukunft aufwächst. Ich wollte euch den christlichen Glauben näher bringen und euren Kindern Lesen und Schreiben beibringen, um ihnen eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Trotzdem scheinen meine Nichte und mein Neffe von diesem, ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, betroffen zu sein.«
»Ich kann nichts für euer Schicksal, und ihr könnt nichts für meines. Die Karten wurden von den Göttern schon viel früher gemischt und verteilt, und wir alle müssen damit leben.«
Naomi sammelte ihren ganzen Mut und stellte die Frage, die ihr schon seitdem sie Dorotheas Unterlagen gefunden hatte, auf der Seele brannte. »Hängt das irgendwie mit Martín Cortés zusammen?«
Nopaltzins Augen blitzten auf, und er hörte auf, in seinem Schaukelstuhl vor und zurück zu wippen. »Du bist weit gekommen und trotzdem noch nicht weit genug.«
Diese Andeutungen zerrten an Naomis Nerven. War ein einfaches Ja oder Nein zu viel verlangt? Der Mann sprach in Rätseln. Wenn Martín Cortés nicht der Anfang war und Nopaltzin es genau wusste, warum sagte er es ihr nicht einfach? Naomi goss sich ein Glas Wasser ein und trank es auf einen Zug aus. »Nopaltzin, wie viel weiter zurück muss ich gehen, um dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Ich will doch nur wissen, woher ich komme, warum ich so bin, wie ich bin und was ich dagegen unternehmen kann.«
»Du willst also nur die drei elementarsten Dinge der Welt wissen ... danach forscht die ganze Menschheit seit Jahrtausenden. Nur die Götter kennen die Antwort darauf.«
Naomi versuchte, sich auf die Denkweise des Häuptlings einzulassen. »Sprechen die Götter mit Ihnen?«
»Gelegentlich.«
Naomi senkte den Kopf und starrte auf ihre Füße. Von ihm würden sie nicht viel erfahren.
Weitere Kostenlose Bücher