Im Schatten des Mondlichts - das Erbe
gestrichenen Tor blieb Matlal stehen und schlug mit der Faust drei Mal kräftig gegen das Eisentor.
»Wir sind offensichtlich da«, erklärte Brenda. »Nopaltzin ist vor zehn Jahren hier hergezogen. Früher lebte er näher bei Mexico City.«
Naomi blickte durch das vergitterte Sichtfenster der Eisentür und sah ein weiß getünchtes Haus mit blau angestrichenen Fensterrahmen und einer roten Eingangstür, in die ein merkwürdiges Symbol eingelassen war. Auf dem Dach prangten eine Fernsehantenne sowie ein Wassertank, wie auf allen anderen Wohnhäusern in dieser Straße. Der Innenhof war ordentlich mit Kies aufgeschüttet und überall blühten Blumen zwischen den hochgewachsenen Buchen, Zypressen und Bananenstauden. Naomi wusste nicht, was sie erwartet hatte, als man ihr gesagt hatte, sie würden einen Aztekenhäuptling treffen, doch irgendwie hatte sie nicht damit gerechnet, dass er in einem Durchschnittshaus in einem Dorf leben würde.
Naomi trat einen Schritt zurück, als sie das Knirschen der Kieselsteine vernahm. Jemand näherte sich. Sie wollte nicht direkt vor dem Tor stehen, wenn es geöffnet wurde, und ging noch einen Schritt zurück. Romina stand neben ihr und Naomi bemerkte, wie sich Rominas Kieferknochen weiß auf ihrem Gesicht abzeichneten. Offensichtlich war Romina nervöser, als sie zugeben wollte, denn sonst hätte sie nicht die Zähne so fest zusammengebissen. Dadurch fühlte sich Naomi mit ihrem flauen Magen nicht so allein. Sogar ihre lebenserfahrene Urgroßmutter zeigte einen Anflug von Nervosität.
Das Tor schwang auf und vor ihnen stand Ichtaca. Mit einem Kopfnicken begrüßte er die Ankömmlinge, reichte Brenda kurz die Hand und verabschiedete Matlal, der offenbar gerne geblieben wäre, mit knappen Worten. Matlal zögerte, bevor er das Gepäck abstellte, sich tatsächlich abwandte und mit gesenktem Kopf die Straße hinunter schlenderte.
Ichtaca trat beiseite und bat sie mit einer einladenden Geste einzutreten. Leandra und Brenda hoben ihre Taschen auf und betraten den Innenhof.
Naomi hatte bemerkt, wie Ichtaca Romina anstarrte, bevor sein Blick zu Naomi schweifte. »Er hat dich erkannt«, mutmaßte Naomi. »Es ist unglaublich, nicht wahr? Romina, was ich dich schon die ganze Zeit fragen wollte ...« Naomi folgte ihr auf das Grundstück. »Hast du heute etwas gespürt, während du auf diesem Zócalo warst?«
»Erst dachte ich, ich hätte es mir gestern eingebildet. Ich fühlte mich stark und ausgeschlafen, bis wir den Platz verlassen haben. Auf dem Gehweg fühlte ich mich plötzlich nur noch steinmüde.« Romina stockte kurz. »Als wir heute den Platz überquerten, um in die U-Bahn zu steigen, spürte ich diese Kraft erneut. Hast du das gemeint?«
Naomi nickte und folgte den anderen rechts ums Haus herum auf eine riesige hölzerne Veranda, auf der mehrere Schaukelstühle im Kreis angeordnet waren. Auf der Stirnseite saß in einem der Stühle ein alter Mann und wippte mehrfach kräftig vor und zurück, bevor er sich durch den Schwung auf die Beine schwang, um seine Gäste zu begrüßen.
»Die Götter sagten, du würdest eines Tages wiederkommen, Brenda«, begrüßte er sie in bestem Englisch. »Ich war mir nur nicht sicher, ob ich es noch erleben würde.« Brenda ging auf ihn zu und reichte ihm die Hand.
Naomi betrachtete den alten Mann. Er sah aus, wie eine gealterte Version seines Sohnes. Groß und kräftig gebaut, wenn auch seine Körperhaltung sich mit den Jahren etwas nach vorn geneigt hatte; sein langes Haar war immer noch tiefschwarz und er trug es im Nacken zusammengebunden. Seine Bekleidung bestand aus einem weit geschnittenen Hemd über einer ausgewaschenen Jeans.
Mit wachem Blick begutachtete er zunächst Leandra, bevor er Romina und Naomi taxierte. »Ichtaca sagte die Wahrheit, als er mir versicherte, du würdest interessante Gäste mitbringen«, sagte er zu Brenda. »Setzt euch. Ichtaca sorgt dafür, dass ihr etwas zu trinken bekommt.« Nopaltzin nahm wieder im Schaukelstuhl Platz. »Brenda, wie ist es dir die letzten Jahre ergangen?«, fragte Nopaltzin, wobei sein Blick zwischen Naomi und Romina hin- und herwanderte. »Mich erstaunt, dass du nicht in deiner Ordenstracht vor mir sitzt.«
Brenda entwich ein kehliges Geräusch. »Das liegt daran, dass ich dieses Mal nicht aus Glaubensgründen hier bin, sondern wegen meiner Familie.«
»Als ob es da einen Unterschied gäbe.« Nopaltzin wippte gemächlich vor und zurück.
Naomi verfolgte den Schlagabtausch mit Bewunderung. Die
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