Im Schatten des Mondlichts - Das Erwachen - Die Fährte - SOMMER-SONDEREDITION (German Edition)
lacht auch mal?«
Leandra zuckte mit den Schultern. Sie schien in Gedanken.
»Oma, wir schaffen das schon. Keine Sorge. Wir holen nur den Schlüssel ab und sind schnell wieder draußen.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, murmelte sie.
Die Tür im zweiten Stock stand offen, und ein hochgewachsener Mann mit rotblondem Kurzhaarschnitt erwartete sie bereits am Büroeingang. Das musste Mr. Thursfield Junior sein. Das Erste, was Naomi auffiel, waren seine frisch polierten Schuhe. Ihr Blick wanderte mit jeder erklommenen Treppenstufe nach oben. Der Anwalt steckte in einem nachtblauen Anzug, darunter ein weißes Hemd, samt einer dezent gemusterten Krawatte; seine Körperhaltung signalisierte Selbstvertrauen und Kompetenz.
»Mrs. Thomson! Wie schön. Endlich lerne ich Sie persönlich kennen. Haben Sie gleich hergefunden?« Mit einem gewinnenden Lächeln trat er einen Schritt auf Leandra zu und streckte ihr die Hand hin, um sie zu schütteln. Anschließend wandte er sich Naomi zu. »Und das muss Ihre reizende Enkelin sein.« Er griff nach Naomis Hand, drückte sie und legte bekräftigend seine linke obenauf, wie Naomi es bisher nur bei Staatspräsidenten gesehen hatte. Es sollte wohl eine freundschaftliche Geste sein, doch bei ihr bewirkte es das Gegenteil. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Etwas an diesem Mann mahnte sie zur Wachsamkeit. Auch sah Naomi keinen Grund, sie direkt am Eingang zu empfangen. Immerhin wollten sie nur einen alten Schlüssel abholen. Sie waren weder wichtige oder reiche Mandanten, noch waren sie überhaupt Klienten, bei denen er ein Geschäft wittern konnte. Nach einer gefühlten Ewigkeit gab er ihre Hand endlich frei.
»Folgen Sie mir bitte in mein Büro. Mein Vater erwartet Sie sehnsüchtig. Seit Ihrem Anruf spricht er von nichts anderem mehr.« Mit weit ausholenden Schritten marschierte er voran.
Der Weg führte an der Sekretärin vorbei, die sie neugierig über den Brillenrand hinweg musterte, bevor sie die Besucher freundlich grüßte. Es schien auch für sie neu zu sein, dass ihr Chef Mandanten persönlich an der Tür empfing.
Naomi warf ihrer Großmutter einen verwunderten Blick zu und ließ sie vorangehen. Die Einrichtung wirkte gediegen, wie es sich für eine Anwaltskanzlei wohl gehörte. Dunkle Holzmöbel, dicke Teppiche, gemischt mit modernen Gemälden und frischen Blumen.
Mr. Thursfields Büro war im gleichen Stil eingerichtet. Ein wuchtiger Schreibtisch aus edlem Holz, Besucherstühle davor, eine Sitzecke in dunkelbraunem Leder vor einer beeindruckenden Bücherwand. Das Einzige, was ihr fehl am Platz vorkam, war ein Ohrensessel, der in einer Ecke stand. Die Farbe des Bezugs war im Laufe der Jahre zu einem undefinierbaren Schmutzton ausgebleicht.
In dem abgewetzten Sessel saß ein weißhaariger Herr mit auf dem Schoß gefalteten Händen. Sein teuer aussehender Anzug bildete einen merkwürdigen Kontrast zu dem abgenutzten Möbelstück. Seine wachen Augen taxierten Leandra, bevor sein Blick auf Naomi fiel und er hörbar die Luft einzog.
»Darf ich Ihnen meinen Vater vorstellen? Walter Thursfield.«
Unter offensichtlicher Anstrengung stemmte sich Walter Thursfield aus dem Polstersessel. »Welche Freude, Sie endlich kennenzulernen.« Er ging mit ausgebreiteten Armen auf Leandra zu, schüttelte ihr die Hand und legte, wie zuvor sein Sohn, die linke Hand darüber. »Bitte, nehmen Sie doch Platz. Eine Tasse Tee?« Mit einer einladenden Handbewegung deutete er auf die Sitzgruppe, bevor er Naomi die Hand schüttelte und sie zum Sofa schob.
Naomi setzte sich und schlug die Beine übereinander. Leandra nahm neben ihr Platz, während sich Walter Thursfield in einem Sessel gegenüber niederließ und sein Sohn den Tee in Auftrag gab.
»Nach all den Jahren«, begann Walter Thursfield. Gefolgt von einer ausladenden Geste, die auf Naomi einen einstudierten Eindruck machte. »Nach all den Jahren lüften wir nun endlich das Geheimnis des Schlüssels. Ich kann es kaum glauben. Immer wieder grübelte ich darüber nach, ob ihn tatsächlich jemals jemand abholen käme oder ob er weiterhin in der Obhut unserer Kanzlei verbleiben würde.« Er beugte sich vor und fixierte Leandra. »Was hat es also mit diesem Schlüssel auf sich?«
»Ich muss Sie enttäuschen, Mr. Thursfield. Leider weiß ich es ebenso wenig, wie Sie.« Leandra lehnte sich zurück. Naomi schien es, als wolle ihre Großmutter einen größeren Abstand zwischen sich und den Anwalt bringen. »Durch Zufall bin ich auf eine Notiz
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