Im Schatten des Mondlichts - Das Erwachen - Die Fährte - SOMMER-SONDEREDITION (German Edition)
befand sich eine Schaukel im Vorgarten, aber sonst sahen alle gleich aus. Alle gleich traurig. Vielleicht lag es aber auch an der Tageszeit. Die Sonne stand tief und tauchte die Umgebung in ein fahles Licht.
Es dauerte noch eine geraume Zeit, bis der Eurostar in den Bahnhof einfuhr; wenige Minuten nach zwanzig Uhr würden sie ankommen. Naomi atmete kräftig ein und aus, um sich zur Ruhe zu zwingen. Ihre Großmutter wirkte auf sie ebenfalls unruhig. Immer wieder strich Leandra ihr glattes Haar zurück. Zwei Sekunden später rutschten ihr die Haarsträhnen erneut über die Schulter nach vorn.
Naomi erhob sich und zog die Gepäcktaschen aus dem Fach über ihrem Kopf. Die Koffer standen in einer Aufbewahrungsbox beim Ausgang, an dem sich bereits die Fahrgäste drängten. Als ob sie so schneller ankämen, dachte Naomi und setzte sich wieder.
Leandra stand auf und reckte sich. »Zehn Stunden Zugfahrt, und ich bin stocksteif. Ich werde alt.«
Naomi gluckste. »Mir tut auch alles weh. Das hat nichts mit deinem Alter zu tun. Glaub mir.« Sie ließ ihren Kopf kreisen, um die verspannte Nackenmuskulatur zu lockern. »Wie sieht Emma eigentlich aus?«
»Wenn ich das wüsste. Unser letztes Treffen ist lange her.« Leandra legte die Stirn in Falten. »Sie ist um die einssechzig, hat dunkelblondes Haar und ist ziemlich rund. Gut gegessen hat sie schon immer. Vor allem Pizza.«
Naomi streckte ihr die Zunge heraus. »Ich mag Pizza eben.«
Der Zug hielt an, und Naomi ließ Leandra den Vortritt. Sie wuchtete die Koffer aus dem Abteil, während Leandra sich suchend umsah. Auf dem Bahngleis wuselte es vor Menschen.
Naomi sah sich um und suchte nach einer alleinstehenden Frau, die sich vermutlich ebenfalls den Hals verrenkte. Ihr Blick blieb bei einer älteren Frau hängen, die nach jemandem Ausschau hielt. Sie war aber zu schlank für Leandras Beschreibung.
Ein junger Mann starrte sie unverwandt an. Naomi drehte ihren Kopf weg, verzog das Gesicht und sah sich weiter auf dem Bahnsteig um. Sie empfand es als unangenehm, dermaßen angestarrt zu werden. Sie unterdrückte den Impuls, dem Kerl, wie ein kleines Mädchen, einfach die Zunge herauszustrecken, um ihm zu zeigen, was sie davon hielt.
Leandra streckte die Hand in die Luft und winkte. Sie musste Emma entdeckt haben. Naomi drehte sich um und sah in das Gesicht der Frau, die vorher in ihre Richtung geblickt hatte. Sie kam auf sie zu, lächelte breit und umarmte Leandra. Der junge Mann schien inzwischen verschwunden zu sein.
Leandra und Emma plauderten, während Naomi hinter den beiden herging.
Nachdem sie im Wagen saßen und über eine Schnellstraße fuhren, fragte Leandra, ob Emma ein Bed and Breakfast reserviert habe.
Emma verneinte. »Wozu besitze ich ein Gästezimmer? Wir haben uns so lange nicht gesehen.«
»Emma, wir werden dir fürchterlich auf die Nerven gehen«, erwiderte Leandra.
Naomi zuckte zusammen, als sie hörte, sie müssten bei Emma schlafen.
»Warum solltet ihr? Ich freue mich. Endlich kann ich wieder jemanden verwöhnen. Ihr könnt auch kommen und gehen, wie ihr möchtet, und mein Auto brauche ich nur selten.«
Leandra seufzte. »Also gut. Nachdem du dich darauf eingestellt hast, bleiben wir gerne für ein paar Tage. In der Zwischenzeit suchen wir uns eine günstige Unterkunft in der Nähe. Aber deinen Wagen fahre ich bestimmt nicht, nachdem hier alle auf der falschen Seite unterwegs sind.« Sie grinste verlegen. »Das letzte Mal, als ich in England mit dem Auto auf Achse war, ist gut und gerne zwanzig Jahre her.«
Emma lachte. »Ach was, an den Linksverkehr gewöhnt man sich schnell wieder. Wir sind gleich da. Ich habe uns auch etwas zu essen vorbereitet.«
Es berührte Naomi unangenehm, im Haus einer Fremden wohnen zu müssen. Ohne Privatsphäre. Nachdem es sich bei dieser um Leandras Freundin handelte, und sie sich lange nicht gesehen hatten, schwieg Naomi. Sie wollte sich Leandra später vorknöpfen; wenn sie alleine im Zimmer waren.
Naomi sah aus dem Fenster. Sie hatte gehofft, etwas von der Innenstadt zu sehen, doch außer den Häuserdächern entlang der Schnellstraße sah sie nicht viel. Nach weiteren fünfunddreißig Minuten überquerten sie, kurz vor Richmond, eine Brücke, und sie erhaschte einen raschen Blick auf die Themse. Emma bog noch einige Male ab und fuhr in eine kleine Straße mit roten Klinkerbauten, deren Eingänge und Fenster sich einer Grünzone zuwandten. Dort stellte sie den Wagen ab.
Auch hier sahen die Häuser nahezu
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