Im Schatten des Mondlichts - Das Erwachen - Die Fährte - SOMMER-SONDEREDITION (German Edition)
hätte ich denen sagen sollen?«
»Aber damals wusstest du doch noch gar nichts von dem feindlichen Clan«, erwiderte Naomi.
»Das nicht. Trotzdem spürte ich, dass etwas nicht stimmte, ein Unglück bevorstand. Wie auch bei deinem Vater. Bis er dann ermordet wurde.« Leandra griff nach dem Beweisstück und suchte die Stelle.
Naomi erinnerte sich genau an den Wortlaut. Romina hatte nicht geschrieben, bis dein Mann ermordet wurde, sondern bis dein Mann umkam. Das war ein Unterschied. Auch wenn sie nicht ausführlicher darüber berichtet hatte, lag der Verdacht nahe, dass es sich beim Tod ihres Großvaters um keinen Zufall gehandelt hatte. »Oma, wir müssen los. Morgen lesen wir weiter.«
Leandra sah auf ihre Armbanduhr. Kurz vor fünf Uhr nachmittags. »Dann wasche ich mir mal mein verheultes Gesicht.« Mit einem Blick auf Naomi fügte sie hinzu. »Dir könnte ein bisschen Politur auch nicht schaden.«
Naomi lachte freudlos. »Ich kann meine verheulten Augen auf einen Streit mit meinem erfundenen Freund schieben. Außerdem setze ich mir einfach eine Sonnenbrille auf.«
Während Leandra sich frisch machte, sah sich Naomi in ihrem Zimmer um. Die Unterlagen offen herumliegen zu lassen, kam nicht in Frage. Immerhin würde sie nicht nur das Abendessen bei Emma hinter sich bringen müssen, sie wäre anschließend die ganze Nacht im Park.
Sie überlegte, wo sie die Papiere verstecken sollte. Auf dem Schrank war zu simpel, unter der Matratze auch; ihr Gepäck war keine Option, dort würde man am ehesten danach suchen. Alles unter den Läufer vor dem Bett zu schieben, fiele zu sehr auf. Einen der Nachttische daraufzustellen wäre gut, aber die schieden aus, da sie an der Wand angebracht waren. Viel mehr befand sich nicht im Raum. Eventuell könnte sie die Unterlagen hinter eines der Bilder klemmen. Sie stieg auf das Bett, hob den Rahmen über dem Kopfteil an und versuchte zwei der Umschläge dahinter zu verbergen. »Jepp!«, rief sie aus, als sie tatsächlich hielten. Kaum war sie vom Bett gestiegen, um die nächsten Umschläge hinter dem zweiten Gemälde anzubringen, als hinter ihr die Briefe bereits raschelnd wieder hervorrutschten.
Naomi schnaubte wütend. Wo zum Teufel sollte sie die Papiere verstecken? Sie starrte das Bild an, als sei es schuld an ihrer Misere. Dann kam ihr eine Idee. Sie nahm den Bilderrahmen von der Wand und drehte ihn um. Es war ganz einfach. Nur die Häkchen zurückbiegen, den Karton anheben und sie konnte die Umschläge zwischen die Pappe und den Druck klemmen. Durch die Glasscheibe würde es halten. Zumindest musste sie es versuchen. Sie legte zwei Kuverts hin, klappte den Stützkarton wieder zu, drückte die Häkchen schützend nach unten und drehte das Bild um. Der Kunstdruck wellte sich zwar ein bisschen, aber man musste sehr genau hinsehen, um die Umrisse der Briefumschläge zu entdecken. Zufrieden hängte sie das Bild zurück.
Während Naomi das zweite Bild auseinandernahm, kam Leandra aus dem Badezimmer zurück. »Was treibst du denn da?«
Naomi sagte nichts und arbeitete konzentriert weiter. Die spitzen Häkchen stachen ihr in die Finger, ein Nagel war ihr bereits abgebrochen. Eine Schere zum Aufbiegen der Haken wäre hilfreich gewesen, aber es musste eben auch so gehen. Die verbleibenden drei Umschläge passten genau in den Rahmen. Wenige Minuten später hing das Bild wieder neben dem Kleiderschrank. »Und, was meinst du?«
»Du übertreibst maßlos, meine ich.« Leandra ließ sich auf das Bett fallen und begutachtete die Bilder. »Aber es fällt kaum auf. Wie bist du denn darauf gekommen?«
Naomi ging ins Badezimmer, um ihr vom Weinen verschmiertes Augen-Make-up wieder in Ordnung zu bringen. »Du sagst zwar immer, ich sehe zu viel fern, aber es kann auch für was gut sein.« Mit einem Kosmetiktuch entfernte sie den verlaufenen Kajal und zog in einem zarten Strich den unteren Lidrand nach. Das musste genügen. Emma wartete auf sie.
Leandra saß reglos auf dem Bett. Ihre Augen waren zwar nicht mehr rot, sahen aber noch leicht geschwollen aus. Kommentarlos packte Naomi die Zeitschriften, die sie für Emma gekauft hatten, in den Rucksack, nahm den Schlüssel vom Nachttisch und nickte zur Tür. »Wollen wir?«
Neun
Auf dem Weg zurück in ihre Pension dachte Naomi über den Brief nach. Hoffentlich lenkte der Theaterbesuch mit Emma ihre Großmutter für einige Zeit ab. Leandras bedeutungsschwangere Blicke hatten sie nervös gemacht und lustlos im Essen herumstochern lassen.
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