Im Schatten des Mondlichts - Das Erwachen - Die Fährte - SOMMER-SONDEREDITION (German Edition)
Von ihrem Standpunkt aus sah sie auf dem Hügel die Eiche stehen. Der Anblick dieses majestätischen Baums beruhigte ihren klopfenden Herzschlag und ließ sie ruhiger atmen.
Erleichtert lehnte sie sich an den Stamm. Bald kämen sie. Der Vollmond schob sich in einem glühenden Orangerot über die Baumkronen in den Nachthimmel empor und warf ein brennendes Spiegelbild auf den See.
Naomi lauschte in die Dunkelheit. Kein Geräusch ließ darauf schließen, dass sich jemand dem Treffpunkt näherte. Noch blieb Zeit.
Auch wenn sie sich noch nicht daran gewöhnt hatte, nackt von anderen gesehen zu werden, ging sie das Risiko dieses Mal ein. Die fiebrige Hitze setzte ihr zu. Zwischen den Wurzeln versteckte sie ihre Sneakers, den Jogginganzug und ihre Unterwäsche. Die Arme vor die Brust geschlungen, kauerte sie sich in Embryostellung hinter der Eiche zusammen. Wo steckten sie nur? Ihre letzte Überlegung galt den Clanmitgliedern, und wie viele wohl kämen, bevor sie die Augen schloss und nicht mehr in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen.
Naomi erwachte. Aufmerksam sondierte sie die Umgebung. Kein Geräusch war zu vernehmen. Die Ohren aufgerichtet, lauschte sie noch einen Moment, bevor sie sich streckte und ihr ganzer Körper erzitterte. Sie stand auf und entfernte sich einige Schritte von der Eiche. Niemand war hier. Niemand, außer ihr. Mit einem Schnauben ließ sie ihren Schädel zwischen ihre Vorderpfoten sinken. Der Blick auf ihre pelzigen Pfoten erschien ihr immer noch fremd, sodass sie kurz erschrocken zusammenzuckte, bevor ihr bewusst wurde, dass es sich dabei um ihre eigenen Tatzen handelte.
Was sollte sie jetzt tun?
Niedergeschlagen legte sie ihren Kopf auf den Vorderpfoten ab. Sie war sich so sicher gewesen, in dieser Nacht nicht alleine zu bleiben. Das Knacken eines Astes ließ sie aufschnellen. Ganz automatisch hatte sie die Knie- und Fußgelenke eng zusammengezogen und blitzschnell wieder gestreckt. Der Schub hatte sie gut zwei Meter zur Seite springen lassen. Das Training mit Kai zeigte seine Wirkung. Eine ganze Nacht lang hatten sie trainiert aus dem Stand oder aus der Sitzposition hochzuspringen und durch einen Sprung einer drohenden Gefahr zu entkommen.
Ihre Augen suchten die Umgebung ab. Das Rascheln nahm zu, kam näher. Aus dem Gebüsch brach ein Hirsch auf die Lichtung. Das Tier erstarrte und hielt seine Nase in die Luft. Entweder er spürte ihre Anwesenheit oder er hatte ihren Geruch gewittert. Auf alle Fälle riss er mit einem Ruck zur Seite aus und stürmte in die Dunkelheit davon.
Naomi sah unschlüssig dem Vollmond auf seiner Wanderschaft zu.
Nutzlos hier herumzusitzen, brächte sie nicht weiter. Wenn sie die Nächte einfach nur tatenlos vergeudete, entfernte sie sich nur von ihrem Ziel: An Kraft und Stärke zu gewinnen, um Roman vor dem feindlichen Clan schützen zu können.
Ebenso gut konnte sie trainieren, auf Bäume klettern, an Geschwindigkeit zunehmen und aus dem Sitz oder Stand kontrolliert in eine andere Richtung springen. Um sich aufzuwärmen, drehte sie einige Runden; erst im Trab, später im Galopp, bis sich die Bewegungen geschmeidig anfühlten.
In zwanzig Metern Entfernung blieb sie vor der Eiche stehen. Der Stamm durchmaß etwa zwei Meter und bis zum unteren Astkranz waren es höchstens fünf. In drei Sätzen könnte sie oben sein.
Die Baumkrone überragte alle umstehenden Bäume. Wenn sie behutsam durch das Geäst nach oben kletterte, wäre es ein guter Aussichtspunkt.
Kai hatte es ihr mehrfach demonstriert. Eine unbändige Traurigkeit überkam sie. Wenn Kai nur hier wäre! Er würde ihr helfen, ihr zur Seite stehen. Doch Kai war tot. Und sonst war niemand gekommen.
Sie schüttelte unwillig den Kopf, um die trüben Gedanken zu vertreiben, und nahm Anlauf. In schnellem Galopp rannte sie auf den Stamm zu, sprang ab, öffnete die Vorderpfoten, wie für eine Umarmung. Der Stamm raste auf sie zu. Beinahe hätte sie vergessen den Kopf zurückzunehmen, was unweigerlich zu einem Absturz geführt hätte. Im letzten Moment riss sie ihn zurück, schlug die Krallen in die Rinde, stieß sich wieder ab, um sie weiter oben erneut ins Holz zu treiben. Nach drei Sätzen stand sie oben. Stolz erfüllte sie. Hoch erhobenen Hauptes balancierte sie auf dem Ast, sah sich um und peitschte mit dem Schwanz. Bevor sie wieder herunterspränge, wollte sie sich die Umgebung ansehen. Sie kletterte die Äste weiter nach oben, bis sie fürchtete, die kleinen Zweige würden unter ihrem Gewicht
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