Im Schatten des Mondlichts - Das Erwachen - Die Fährte - SOMMER-SONDEREDITION (German Edition)
Dabei hatte sich Emma solche Mühe gegeben.
Emma hatte einige Male ihren Mund geöffnet, nur um ihn kommentarlos wieder zu schließen. Vermutlich dachte sie, Naomis mangelnder Appetit hinge mit ihrem Freund zusammen und wollte nicht neugierig erscheinen, indem sie nachfragte.
Naomi musste ihrer Oma recht geben. Emma würde niemals in ihren Sachen herumschnüffeln. Trotzdem war sie in einem Motel für die kommenden beiden Nächte besser aufgehoben. Dort würde keiner Fragen stellen, wenn sie erst im Morgengrauen zurückkäme.
Als sie an der Rezeption vorbeikam, hob der Angestellte kurz seinen Blick aus der vor ihm liegenden Zeitung, nickte und widmete sich weiter den Schlagzeilen.
Mit zunehmender Dunkelheit wuchs Naomis Unruhe. Es kostete sie immer größere Anstrengung frei zu atmen. Das Gefühl des Eingesperrtseins drängte sie ins Freie. Selbst das geöffnete Fenster verschaffte ihr nur Linderung, wenn sie direkt davor stand. Der Blick auf den Friedhof, der langsam in der Finsternis verschwand, beruhigte sie mehr, als dass er sie ängstigte; zumal hinter dem Friedhof der Richmond Park lag.
Es war Zeit zu gehen. In ihrem Jogginganzug würde sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, da sicherlich mehrere Londoner abends eine Runde drehten. Mehr Sorge bereitete ihr das Tor.
Das schmiedeeiserne Tor war geschlossen. Unglücklicherweise beleuchteten Straßenlaternen den Eingang. In vielleicht fünf Sekunden könnte sie den Zaun überwinden. Wenn sie sich in die linke Ecke drückte, wäre es möglich, vom Gebüsch verborgen, darüberzuklettern. Allerdings führte dort direkt die Queens Road vorbei, und die Autofahrer würden sie zwangsläufig entdecken. Der Verkehr war zwar nicht mehr so dicht wie am Nachmittag, aber es fuhren noch genügend Fahrzeuge auf der Straße. Wenn nur diese blöde Laterne nicht direkt an dieser Ecke stünde!
Naomi kam eine Idee. Als Jugendliche hatten sie manchmal aus Spaß die Straßenlaternen mit einem kräftigen Tritt für kurze Zeit ausgekickt. Aber das war Jahre her. Ob es noch funktionierte?
Naomi sah sich um. Keiner zu sehen. Im Kampfsporttraining hatte sie an einem Sandsack regelmäßig harte und kurze Schläge geübt. Sie blieb in einem knappen Meter Abstand davor stehen, hob das Bein und trat im rechten Winkel gegen den Laternenpfahl. Das Licht flackerte, ging aber nicht aus. Als sich ein Wagen näherte, tat sie so, als müsse sie sich einen Schnürsenkel zubinden. Dass ihre Schuhe Klettverschlüsse besaßen, würde der Fahrer auf diese Entfernung nicht erkennen können.
Kaum war die Straße wieder leer, trat Naomi erneut gegen den Pfosten. Dieses Mal etwas kräftiger. Der Aufprall ließ den Masten schwanken, das Licht flackerte erneut und ging aus. Naomi riss die Faust in die Luft. Geschafft! Nun musste sie sich beeilen. Wenn sie sich richtig erinnerte, ging das Licht nach wenigen Minuten wieder an.
Die Ecke, wo sie über das Tor klettern wollte, lag nun im Dunkeln. Geräuschlos setzte sie einen Fuß in die Querstrebe und erreichte mit dem nächsten Schritt die Stange zwischen den aufragenden Gitterspitzen. Wenn sie jetzt stürzte, wären die Verletzungen immens. Konzentriert schob sie ihr Knie nach oben, bis sie mit der Fußsohle sicher auf der Eisenstange Halt fand. Mit Schwung stemmte sie sich hoch und stand mit einem Bein auf dem Gitter, bevor sie mit einem Satz auf der Grasfläche im Inneren des Parks landete. Einen Freudenschrei unterdrückend, lief sie im Schatten der Bäume den Pfad entlang, bis sie von der Straße aus nicht mehr gesehen werden konnte.
Das unsichtbare Band zog sie tiefer in den Wald hinein. Die Hitzewallungen nahmen zu. Naomi zog ihre Sweatshirt-Jacke aus und wischte sich damit über die Stirn. Immer wieder entdeckte sie Damhirsche in kleinen Gruppen. Mal lagen sie auf dem Waldboden, mal beäugten die aufgeschreckten Tiere Naomi. Auch wenn sie an Menschen gewöhnt waren, hatten sie normalerweise den Park nachts für sich; bis auf die Vollmondnächte. Aber auch damit waren diese Tiere bestimmt vertraut, nachdem nicht einmal der feindliche Clan es auf das Rotwild abgesehen hatte.
Naomi mochte sich nicht vorstellen, wie es wäre, wenn eines der männlichen Tiere mit dem mächtigen Schaufelgeweih einen Angriff riskierte. Vorsichtshalber hielt sie Abstand zu ihnen, bevor sie in einem Bogen weiter in den Wald lief.
Ihr Weg endete wieder am See. Der Pen Ponds lag still und verlassen da. Die Schwäne vom Vortag hatten sich irgendwohin zurückgezogen.
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