Im Schatten des Mondlichts - Das Erwachen - Die Fährte - SOMMER-SONDEREDITION (German Edition)
brechen. Der Blick über den vom Vollmond beleuchteten Park war bezaubernd. Wie eine silberne Platte lag ihr der See zu Füßen. Die Kronen der unterhalb stehenden Bäume sahen aus wie dunkle Wattebäusche unter einem Sternenzelt. Für einen kurzen Moment fühlte sie sich mächtig, alles überragend, auch wenn dieses Gefühl nur aus ihrer momentanen Position heraus resultierte.
Der Abstieg durch das dünne Geäst gestaltete sich schwieriger als angenommen. Rückwärts ließ sie ihren Körper an den einzelnen Ästen hinabgleiten. Sie versuchte, sich mit den Hinterläufen abzustützen, verlor aber immer wieder den Halt.
In letzter Sekunde schlug sie die Klauen ihrer rechten Vorderpfote ins Holz. Da sie mit dem ganzen Gewicht an diesen Krallen hing, glaubte sie, es zöge ihr jede einzeln aus dem Fleisch. Heftig hieb sie mit der linken Tatze die Krallen in den Stamm. Sofort ließ der Zug nach.
Als sie letztlich auf dem untersten Astkranz ankam, musste sie eine Pause einlegen, um Kraft zu sammeln, bevor sie den Abstieg über den Stamm absolvieren konnte. Mit der Zunge strich sie über ihre Pfoten und massierte die schmerzenden Stellen. Das Abwärtsklettern ängstigte sie immer noch. Je schneller sie es hinter sich brächte, desto besser; und je öfter sie übte, umso leichter fiele es ihr irgendwann.
Anschließend konnte sie sich immer noch ausruhen.
Wie Kai es ihr gezeigt hatte, krallte sie sich mit den Vorderpfoten am Stamm fest. Mit den Hinterläufen stemmte sie sich gegen das Holz. Rücklings hing sie am Baumstamm und zog erst die Krallen der rechten Vorderpfote ein, bevor sie die Klauen weiter unten erneut ins Holz trieb. Mit der linken Pfote wiederholte sie den Vorgang, um gleich darauf mit der rechten nachzusetzen. Langsam arbeitete sie sich abwärts, bis sie nur noch zwei Meter vom Boden entfernt war. Sie zog die Krallen beider Pfoten gleichzeitig ein, wendete und stieß sich kräftig mit den Hinterpfoten ab.
Der Waldboden raste auf sie zu. Mit dem Schwanz steuerte sie den Fall – und landete, ohne zu straucheln, sicher auf allen vier Pfoten. Kai wäre stolz auf sie.
Übermütig hüpfte sie auf das Seeufer zu. Mit ihren Hinterläufen überholte sie beinahe ihre Vorderbeine, nur um dann mit allen Vieren gleichzeitig in die Luft zu springen. Der reibungslose Abstieg ließ sie die Anstrengung vergessen. Zum ersten Mal verspürte sie Durst. Am Seeufer blieb sie stehen, knickte die Vorderläufe ein und schob sich zum Wasser vor. Mit der Zunge leckte sie über die Oberfläche. Die Zapfen darauf nahmen erstaunlich viel Wasser auf und Naomi verschluckte sich. Ein kehliger Laut drang an ihre Ohren. Sie hustete.
Beim zweiten Versuch war sie auf die Wassermenge vorbereitet und schaffte es, problemlos zu trinken. Als sich die Wasseroberfläche wieder beruhigte, entdeckte sie ihr Spiegelbild. Eher einen Umriss, als ein wirkliches Bild. Trotzdem drehte sie sich zur Seite und versuchte, sich in voller Länge und Größe zu sehen. Mehr als einen langen Schatten, der sich wie ein Tintenklecks im Wasser bewegte, erkannte sie nicht. Ihr Schwanz wirkte lang. Sie bog ihn zu sich und probierte, ihn mit der Schnauze zu erreichen. Immer, wenn sie meinte, sie bekäme ihn zu fassen, fehlten doch noch ein paar Zentimeter, bis sie damit begann, dem Schwanz nachzulaufen und sich im Kreis um sich selbst zu drehen. Plötzlich stoppte sie.
Sie lief, wie eine gewöhnliche Hauskatze, ihrem eigenen Schwanz nach, obwohl sie wusste, dass sie ihn niemals mit ihrer Schnauze würde berühren können. Besser, sie begab sich auf Erkundungstour. Vielleicht gab es ja doch noch einen anderen Treffpunkt.
Naomi stromerte durch den Wald. Auf einem ebenen Wiesenstück standen acht ausgewachsene Damhirsche. Ihre weißen Flecken auf dem Fell leuchteten im Mondlicht.
Sie pirschte sich an die Herde heran. In ihrer neuen Gestalt fühlte sie sich mutiger. Je näher sie ihnen kam, desto nervöser reagierten die Tiere. Naomi ging arglos weiter, legte sogar noch an Tempo zu. Die Tiere schraken hoch und preschten in die entgegengesetzte Richtung davon. Ein Wettrennen! Eine gute Übung.
Mit ein paar Sätzen setzte sie ihnen nach, schloss bald auf und lief neben ihnen her, überholte die ausbrechenden Tiere, und als die Hirsche begannen, Haken zu schlagen, ließ sie sich auf das Spiel ein. Sie verhielt sich wie ein Hütehund, der seine Schafherde beisammenhalten wollte. Naomi stoppte, schlug Haken, sprang nach rechts oder nach links – bis ein Hirsch direkt
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