Im Schatten des Mondlichts - Das Erwachen - Die Fährte - SOMMER-SONDEREDITION (German Edition)
einem offenen Kamin, links davon ein überquellendes Bücherregal, das bis zur Decke reichte. Der Aufgang zu den Zimmern lag rechter Hand. Eine pummelige Frau mit onduliertem Haar kam aus einem Nebenzimmer. Ihr Äußeres erinnerte Naomi sofort an Miss Marple. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein.
Der Zimmerpreis ließ Naomi schlucken. Die Küche war geschlossen und würde erst zum Abendessen wieder öffnen. Die Dame bemerkte Naomis enttäuschten Gesichtsausdruck und meinte: »Also, wenn Sie sich mit zwei Schinken-Käse-Sandwiches zufriedengeben, bringe ich Ihnen gerne welche auf Ihr Zimmer, um die zwei Stunden bis zum Abendessen zu überbrücken. Naomi knurrte der Magen. In diesem Moment wäre ihr sogar trockenes Brot recht gewesen.
Naomi saß auf dem Bett und verschlang ihr Sandwich. Ihre Großmutter lag auf dem Bett und sah sie missbilligend an. »Halte es wenigstens über den Teller, wenn du schon im Bett essen musst. Ich muss heute immerhin in diesem Bett schlafen, und mit den ganzen Krümeln wird das kein Vergnügen.«
Sie griff nach dem Teller und biss herzhaft in das Brötchen. Mit noch vollen Backen sagte sie: »Immerhin wirst du im Bett schlafen. Ich weiß nicht einmal, wo ich die Nacht verbringen werde.« Sie stopfte den letzten Bissen in den Mund. Ihre Großmutter sah ihr dabei nachdenklich zu.
»Du wirst den Weg schon finden. Wenn ich mich richtig erinnere, ist es nicht weit entfernt.« Leandra schloss die Augen. »Schlaf jetzt.«
Naomi wischte sich die letzten Krümel vom Mund. »Besser ich schau in Rominas Unterlagen, ob ich etwas über den Treffpunkt finde.«
Leandra drehte sich zu ihr um. »Nein, jetzt wird geschlafen. Den Weg findest du schon. Schließlich hast du ihn sogar in Stillwater gefunden. Aber du musst auf dich aufpassen, und das kannst du nur, wenn du ausgeruht bist. Versprich mir, dass du wenigstens versuchst, ein bisschen zu schlafen.«
»Also gut. Versprochen. Aber morgen früh will ich endlich die Briefe lesen.« Naomi ignorierte die Brotkrümel auf der Überdecke, schlug sie zurück und legte sich hin. Zwei Minuten später war sie eingeschlafen.
Elf
Naomi erwachte schweißgebadet. Das einfallende Dämmerlicht und die innere Unruhe ließen sie hochfahren. Es war so weit.
Leandra schnarchte in regelmäßigen Zügen neben ihr und sie entschied, sie weiterschlafen zu lassen. Auf leisen Sohlen schlich sie ins Badezimmer, wusch sich mit eiskaltem Wasser das Gesicht und zog den Sweater aus. Die Hitzewallungen strömten übermächtig durch ihren Körper.
Kurz überlegte sie, ihrer Großmutter eine Notiz zu hinterlassen, doch sie fand nirgendwo etwas zu schreiben. Egal. Leandra wusste, dass sie in den Wald gegangen sein musste.
Sie schnappte den Zimmerschlüssel, ließ ihn in ihre Hosentasche gleiten und schloss geräuschlos die Tür, bevor sie aus dem Haus rannte.
Die pummelige Miss Marple wachte über die Rezeption und rief ihr hinterher, sie könne jetzt zu Abend essen. Sie winkte ihr nur zu und flitzte weiter.
Leandra hatte recht. Der Wald zog sie magisch an und ihre Beine trugen sie vorwärts, ohne dass sie ihnen eine Richtung vorgab. Sie lief einfach. Immer weiter. Immer tiefer in den Wald hinein.
Je weiter sie lief, desto enger standen die Bäume beisammen, und sie musste im Zickzack rennen. Sie stürmte weiter, ohne auf die tief hängenden Äste zu achten. Es drang kaum noch Tageslicht durch die Baumkronen. Sie war spät dran. Viel zu spät.
Ihr Körper kribbelte und sie wusste, sie hätte längst am Treffpunkt sein müssen. Etwa einhundert Meter vor ihr sah sie die Lichtung. Trotzdem spürte sie, dass sie es nicht mehr bis dorthin schaffen würde.
Ihr Blick verschwamm, und um sie herum wirkte es, als sei alles in dichten Nebel getaucht. Die Hitze schien sie innerlich zu verbrennen. Mit raschen Handbewegungen riss sie sich an Ort und Stelle die Kleider vom Leib - bevor sie bewusstlos zusammenbrach.
Als Naomi erwachte, konnte sie sich im ersten Moment nicht erklären, wo sie sich befand. Was war geschehen? Zusammengeduckt spähte sie durch die Nacht. Der Wald. Die Lichtung. Sie hatte sie nicht mehr erreicht. Dabei lag sie direkt vor ihr.
Der Stamm der hochgewachsenen Platane zeichnete sich deutlich vor dem hell erleuchteten Himmel ab. Die dunklen ahornförmigen Blätter streckten sich wie tausend Finger dem Vollmond entgegen. Der verkrüppelt wirkende Baumstamm war in sich gewunden und schraubte sich bis zum ersten Astkranz fünf Meter in die
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