Im Schatten des Mondlichts - Das Erwachen - Die Fährte - SOMMER-SONDEREDITION (German Edition)
ein Sandwich.«
Leandra schob ihre Unterlippe nach vorn. »Ich dachte eigentlich an was Vernünftiges, nicht schon wieder an ein belegtes Brötchen.«
Naomi war nach ihrem reichhaltigen Frühstück immer noch satt. Leandra hatte kaum etwas gegessen. Kein Wunder knurrte ihr der Magen. »Dann hättest du mehr frühstücken sollen.« Naomi verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich komme jedenfalls nicht mit. Und ich werde hier auch keine Stunde auf dich warten. Entweder du holst dir ein Sandwich oder ich lese ohne dich weiter.«
»Gott, bist du stur!« Leandra schnappte ihre Handtasche. »Soll ich dir auch etwas mitbringen?«
Naomi verneinte. Ihre Großmutter bedachte sie mit einem mürrischen Blick und verließ das Hotelzimmer. Naomi starrte auf die geschlossene Tür. Aufhören zu lesen? Jetzt? Das ging überhaupt nicht. Unmöglich.
Sie musste sich zusammenreißen, um nicht mit dem nächsten Brief zu beginnen. Nachdenklich drehte sie den Umschlag in Händen. Einen Blick konnte sie riskieren, da hätte selbst ihre Großmutter nichts dagegen. Mit einem Kugelschreiber schlitzte sie das Kuvert auf und zog mit spitzen Fingern das Blatt Papier heraus. Sie zögerte und biss sich auf die Unterlippe. Leandra wäre stinksauer.
Bei Miss Marple ein Sandwich zu holen, dauerte keine zehn Minuten. Seufzend steckte sie das Schreiben zurück in den Umschlag und legte ihn ans Fußende des Betts. Um nicht in Versuchung zu geraten, kroch sie zurück und lehnte sich ans Kopfteil; ihren Blick fest auf das Kuvert geheftet.
Romina hatte also in George einen Freund gefunden. Das war beinahe fünfzig Jahre her. Sie mussten in diesen Jahren eine Menge Informationen zusammengetragen haben. George wollte den feindlichen Clan vernichten. Gelungen war ihm das allerdings nicht. Sonst wäre sie weder Sammy begegnet, noch auf diesen Anwalt getroffen.
Ob George herausgefunden hatte, wie stark der feindliche Clan überhaupt war? Die traurige Geschichte über dessen Verlust ging ihr durch den Kopf. Es musste ein schwerer Schlag für George gewesen sein. Immerhin war ihm Alonso geblieben. Doch warum hatte Alba das Kind verschont? Das ergab keinen Sinn. Ging es vielleicht doch nicht so sehr darum, den anderen Clan zu schwächen, sondern nur darum, den Gegner leiden zu sehen? Eventuell hätte Alba das Kind nur später getötet. Möglich. Ebenso möglich wäre es, dass sie das Kind einfach mitgenommen hätte, um es bei ihrem eigenen Clan aufwachsen zu lassen.
Naomi strich sich über den Bauch. Selbst wenn sie ihr Kind nach der Geburt in die Obhut einer anderen Familie geben müsste. Romans Kind würde nichts geschehen. Dafür würde sie sorgen.
Ihr Blick blieb wieder am Umschlag hängen. Sie sah auf die Uhr. Wo steckte Leandra nur? Nun saß sie schon fünfzehn Minuten hier herum. In dieser Zeit hätte sie den Brief schon zwei Mal lesen können. Sie beugte sich nach vorn, griff danach und legte sich auf die Seite. Der Umschlag brannte in ihrer Hand. Sie hielt es nicht länger aus. Was konnte sie dafür, wenn Leandra trödelte? Die Geräusche im Gang ließen sie innehalten.
Die Tür schwang auf und Leandra schlüpfte ins Zimmer. Ihr Blick war eisig. Mit vollem Mund begann sie zu zetern: »Ich hätte wissen müssen, dass du dich nicht zurückhalten kannst. Dabei hast du es mir versprochen!«
»Ich habe ihn mir nur angesehen!« Naomi richtete sich auf. »Außerdem hast du ewig gebraucht. Hast du das Brötchen selbst backen müssen?«
»Also bitte. Ich war doch nur ganz kurz weg.« Ihre Großmutter biss herzhaft in das Sandwich, bevor sie sich zu ihr auf das Bett setzte. »Lies schon vor. Ich sterbe ja selbst vor Neugierde.«
Naomi zerrte das Papier heraus und las.
Mein liebes Kind, das Treffen liegt erst wenige Wochen zurück, und seither versuche ich, unsere Wurzeln zurückzuverfolgen, was mir bisher sehr schwer fällt. In vielen Archiven sind die Aufzeichnungen lückenhaft, und oftmals muss ich mich mit Schätzungen zufriedengeben. Bisher bin ich bis ins Jahr 1897 zurückgegangen. Was ich über unsere Ahnen herausgefunden habe, ist noch zu wenig, um wirklich darüber schreiben zu können. Das werde ich nachholen, sobald ich mehr weiß. Jetzt will ich dir vom Treffen erzählen.
Wir vereinbarten uns im Hyde Park, etwas abseits von Speakers Corner, zu treffen. Dort konnte jeder stehen bleiben, so tun, als würde er zuhören und sich nebenbei unauffällig nach den anderen Clanmitgliedern umsehen. George wartete dort den ganzen Tag. Er schickte
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