Im Schatten des Mondlichts - Das Erwachen - Die Fährte - SOMMER-SONDEREDITION (German Edition)
Erinnerungen gestört. Kais Drängen, Roman zu verlassen, belastete sie. Einerseits konnte sie Kai verstehen, andererseits war sie sich immer noch nicht sicher, ob Cassidys Tod nicht doch ein Unfall gewesen war. Sammy war nicht wieder im Ort aufgetaucht. Sie hatte vorsichtig herumgefragt, niemand wusste etwas über seinen Verbleib. Sie trainierte unermüdlich. Bei den Kampfsportübungen oder auch in den Freestyle-Wettkämpfen, die sie heimlich praktizierten, schlug sie ihre Gegner in Grund und Boden. Der Sport war ihr einziges Ventil für die Angst, die an ihr fraß.
»Wir sehen uns bald, ja?«, fragte Alice.
Naomi nickte. Sie rang sich ein Lächeln ab. »Sicher. Solltest du in drei Monaten nicht wieder hier sein, dann komme ich nach dem Semester nach Barcelona. Versprochen.«
Alice fiel ihr nochmals um den Hals, und sie küssten sich auf die Wangen, bevor Alice in das Taxi stieg. Naomi blieb stehen und winkte hinterher, bis der Wagen nicht mehr zu sehen war.
*
Naomi fuhr mit Romans Wagen die Strecke nach Bangor und wieder zurück. Sie konnte kein Risiko eingehen, dass Roman am Meilenzähler bemerkte, dass sie überhaupt nicht beim Arzt gewesen war. Nicht, dass er das kontrollieren würde. Doch wer konnte schon wissen, ob er wusste, wie voll der Tank war.
Nachdem sie zurück in Orono war, parkte sie den Wagen in der Nähe von Kais Wohnung in einer Seitenstraße. Kai musste endlich zur Vernunft kommen.
Sie klopfte zum dritten Mal an seine Haustür. »Jetzt öffne endlich die verdammte Tür.« Sie ging einen Schritt zurück und wartete. Nichts. »Ich bleibe hier sitzen, bis du aufmachst. Und wenn es die ganze Nacht dauert.« Naomi lauschte. Immer noch nichts.
Nach einigen Minuten, die sie vor verschlossener Tür stand, beschloss sie, sich tatsächlich zu setzen. Der grobborstige Fußabstreifer wäre zwar ungemütlich, aber immer noch bequemer, als direkt auf den blanken und eiskalten Fliesen zu sitzen. Sie lümmelte sich in den Türrahmen und wartete. Damit Kai auch wusste, dass sie noch hier war, drückte sie alle fünf Minuten auf die Türglocke. Irgendwann würde ihm dieses Klingeln auf die Nerven gehen. Und dann würde er endlich aufmachen.
Die Kälte im Treppenhaus nahm zu. Naomi zitterte und rieb sich über die Arme. Sie pochte gegen die Tür. »Kannst du mir wenigstens eine Decke geben? Es ist saukalt hier.«
Als die Tür hinter ihr aufging, fiel sie rücklings in die Wohnung. Kai sah auf sie herab. »Du bist schlimmer als eine Zecke.« Er ließ sie liegen, ging zurück in die Wohnung und warf sich auf das Sofa.
Naomi rappelte sich auf. Aus der Wohnung drang ein Geruch nach Whisky und abgestandener Luft, was ihr Übelkeit verursachte. Kai rührte sich nicht. Er saß starr auf dem Sofa, als sie die Tür schloss und die Fenster öffnete, um zu lüften. Sie griff nach einer Wolldecke, schlang sie sich um die Schultern. Die Scherben der Flasche, die er an die Wand geworfen hatte, lagen immer noch auf dem Fußboden. Sie ging in die Küche und suchte nach einem Handfeger und einem Putzlappen. Kai sah ihr zu, wie sie die Scherben zusammenfegte und notdürftig den Boden wischte. Ein Blick auf ihn verriet, dass er sich seit Cassidys Tod weder geduscht noch gekämmt hatte. Seine Haare standen verstrubbelt in alle Richtungen. Vermutlich hatte er auch nichts gegessen. Ohne ihn zu fragen, ging sie in die Küche und schmierte ihm zwei Brote. »Du musst was essen.«
Kai ignorierte den Teller und auch Naomi.
Sie setzte sich ihm gegenüber. »Sammy ist übrigens immer noch verschwunden.«
Kai schnaubte. »Der versteckt sich nur.«
Immerhin sprach er endlich mit ihr. Sie konnte seinen Schmerz nicht erahnen, aber ihr war klar, dass er sich die Schuld an Cassidys Unglück gab. Ihr Kopf weigerte sich, ihren Tod als Mord anzusehen. »Kann ich dich etwas fragen?«
Kai brummte.
Sie nahm es als Zustimmung. »Ist es normal, dass einem die erste Zeit nach der Verwandlung immer übel ist?«
»Weiß ich nicht mehr. Kann sein.« Kai zog die Beine dichter an seinen Körper und rollte sich zusammen.
Er wirkte auf Naomi wie ein kleines Kind.
»Bist du deswegen hier?«
Naomi schüttelte den Kopf. »Ich überlege nur, wie es weitergehen soll. Das ist alles. Und, ich brauche dich. Du bist der Einzige, mit dem ich darüber reden kann.« Es machte sie traurig, Kai so leiden zu sehen. Sie wollte ihm beistehen, deswegen war sie hier. Doch wie konnte sie ihm helfen? Jedes Wort wäre falsch. Kais schlimmster Alptraum war
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