Im Schatten des Mondlichts - Das Erwachen - Die Fährte - SOMMER-SONDEREDITION (German Edition)
Schlag riss sie nach hinten. Erstaunen lag in ihrem Blick. Sie zappelte wild mit den Armen in der Luft, fand keinen Halt. Sammy stand sehr dicht bei ihr. Um nichts in der Welt wollte er verpassen, wie Kais Freundin in den Abgrund stürzte.
Durch die jahrelange Übung im Klettern verfügte Cassidy über ein ausgezeichnetes Gleichgewicht. Sie war es gewohnt, ihre Hände und Beine kontrolliert und unabhängig voneinander einzusetzen. Das hatte Sammy vergessen. Cassidy umfing in letzer Sekunde mit ihren Beinen Sammys Unterleib, klammerte sich an ihm fest. Den Blick fest auf ihn geheftet, zischte sie: »Du gottverdammtes Arschloch. Ich kenne dich. Wenn ich falle, dann mit Sicherheit nicht alleine!«
Sammy riss die Augen auf. Warum reagierte sie nicht überrascht? Hilflos? Ihr Gewicht zerrte an ihm. Er schwankte, und einen Moment sah es so aus, als könne er sich soweit zurücklehnen, um das Gleichgewicht zu halten. Er versuchte Cassidys Beine von sich zu lösen. Doch die hielten ihn wie ein Schraubstock fest. Er sah, wie sich vereinzelte Teilchen aus der Mauer lösten, spürte den Ruck, als der Stein, auf dem Cassidy saß, durch ihr Gewicht nachgab und unter ihr wegrutschte. Er fiel vornüber, seine Beine verloren den Kontakt zum Boden, und er stürzte gemeinsam mit Cassidy in die Tiefe. Cassidy schrie, als sie hart auf die zackigen Felsen aufschlug. Ihr Körper schützte seinen Aufprall, wobei er trotzdem glaubte, ihm würde jeder Knochen im Körper einzeln gebrochen. Cassidy blieb auf einem vorstehenden Felsen liegen. Der Klammergriff ihrer Beine löste sich, und sie strampelte um sich, bis Sammy von ihrem Körper glitt und über sie hinwegrutschte. Mit seiner rechten Hand klammerte er sich an einer Felsnase fest. Er versuchte sich hochzuziehen. Als er nach oben blickte, sah er nur noch, wie Cassidys Stiefel auf ihn herabsauste, ihm ins Gesicht donnerte und es plötzlich schwarz um ihn herum wurde.
*
Naomi trat kräftig mit ihrem Bein gegen den Sandsack. Außer ihr trainierten nur noch drei weitere Studenten in der Halle. Sie trat weiter, bis ihr der Schweiß in die Augen rann. In ihrem Kopf arbeitete es unablässig. Sie ließ vom Sandsack ab und setzte sich auf eine Bank. Mit dem Handtuch wischte sie sich über das Gesicht, bevor sie die Wasserflasche ansetzte und sie leer trank. Den Kopf zwischen die Beine gebeugt, saß sie da. Wie konnte sie Sammy besiegen? Wäre sie überhaupt in der Lage dazu, einen Menschen zu töten?
Das Quietschen der Eingangstür ließ sie aufsehen. Alice hatte sie entdeckt. Sie trug ein Handtuch um die Schulter und kam auf Naomi zu. »Hi.« Ihre Stimme klang niedergeschlagen.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte Naomi.
Alice plumpste neben ihr auf die Bank. »Ach, nichts. Ich habe nur schlechte Nachrichten erhalten. Eigentlich kenne ich sie ja nur vom Klettertraining in der Halle. Furchtbar ist es trotzdem.«
Naomi hob ratlos die Schultern. Sie sah Alice auffordernd an. Naomi hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.
»Du hast es noch gar nicht gehört? Es geht wie ein Lauffeuer auf dem Campus herum.« Alice lehnte sich an die Wand. »Bevor das Semester anfing, hatte ich einen Kletterkurs belegt.« Sie machte eine Pause. »Vorhin habe ich erfahren, dass die Trainerin einen Unfall hatte und keiner sagen kann, ob sie durchkommt. Die Leute sagen, sie läge im Koma.«
Naomi legte ihre Hand auf Alices Knie. »Ein Autounfall?«
Alice schüttelte den Kopf. »Keiner weiß genau, wie es passiert ist. Auf alle Fälle ist sie eine Klippe hinuntergestürzt. Sie war mit einigen Leuten zum Klettern verabredet und hat ihre Ausrüstung ausgepackt. Sie saß am Straßenrand auf der Steinmauer. Irgendwie muss sich ein Stein gelöst haben und ...« Alice zuckte hilflos mit den Schultern. »Sie fiel mit dem Stein die Klippen hinab. Ihr ganzes Zeug lag noch auf der Straße. Wäre sie nicht auf einem Felsen aufgeschlagen, wäre sie direkt in den Ozean gestürzt. Das hätte sie nicht überlebt.«
Naomi wurde heiß. Die Hitze breitete sich in Wellen in ihrem Körper aus. Ihr Magen zog sich zusammen, und sie würgte.
»Ist dir nicht gut?«, fragte Alice.
Naomi legte ihren Kopf zwischen die Beine. Sie atmete tief ein und aus. »Geht schon wieder. Hier ist es nur so stickig. Die Frau heißt nicht zufällig Cassidy?« Mit Sicherheit gab es in Maine viele Leute, die kletterten, trotzdem war Kais Freundin die Erste, die ihr in den Sinn gekommen war. Bitte lass es nicht Cassidy sein, flehte sie im Stillen.
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