Im Schatten des Teebaums - Roman
verlegen zu Brodie hinüber. »Danke, dass Sie so freundlich sind«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was Sie jetzt von mir denken …«
»Sie haben recht, das wissen Sie vermutlich nicht.« Er schaute sie an und sah die Angst in ihren Augen und dass sie sich ihrer Narben schämte, die nun durch ihr nasses Haar zu sehen waren. Brodie wusste noch immer nicht, was genau mit ihr passiert war, doch ihm war klar, dass es etwas Entsetzliches gewesen sein musste. »Sie sind eine erstaunliche Frau, Matilda. Ihre Kraft ist bewundernswert.«
»W ie können Sie das sagen, nachdem Sie mich dabei ertappt haben, wie ich mich wie eine Heulsuse aufgeführt habe?«
»Das sehe ich nicht so. Ich glaube vielmehr, Sie haben irgendwann einmal etwas so Entsetzliches erlebt, dass Sie die Erinnerung daran jahrelang ausgeblendet haben.«
Tilly starrt auf ihre Hände. »W oher wussten Sie das?«, flüsterte sie.
»Nennen Sie es Intuition. Aber jetzt haben Sie sich endlich Ihren Erinnerungen gestellt, offen und ehrlich, und haben nichts mehr zu befürchten.« Er konnte sehen, dass ihre Hände nicht mehr zitterten, wie es sonst immer der Fall war, wenn sie auf dem Wagen saß.
Tilly blickte wieder auf die Räder hinunter. »Sie haben recht, Brodie«, sagte sie. Eine gewaltige Last schien von ihr genommen zu sein, und es fühlte sich herrlich befreiend an. »W arum haben Sie den Wolf erschossen, Brodie? Ich habe zu Eliza gesagt, es müsse eine Erklärung dafür geben. Wollte der Wolf Sie angreifen?«
Brodies Miene blieb unbewegt. »Ich habe getan, was ich tun musste, Matilda. Das ist alles, was ich sagen kann … im Augenblick.«
Tilly musterte kurz sein Profil; dann nahmen ihre Züge einen sanfteren Ausdruck an. Zwar wusste sie nicht, was geschehen war, doch Brodie war ein guter Mensch, da gab es für sie nicht den geringsten Zweifel. Wenn er den Wolf erschossen hatte, dann deshalb, weil er es hatte tun müssen. So sehr sie Tiere liebte – sie konnte akzeptieren, dass Brodie so gehandelt hatte, wenn ihm keine andere Wahl geblieben war. Auch Eliza sollte Brodies Entscheidung akzeptieren, doch Tilly wusste, dass ihre Nichte das niemals tun würde. Ihr Stolz war verletzt.
»Ich mache mir Sorgen um Eliza, Brodie. Sie hat mir gesagt, sie will von zu Hause wegziehen. Ich habe sie gebeten, hierherzukommen und bei mir zu wohnen, aber angeblich kann sie das nicht.«
Brodie war verwirrt. »Sie hat doch sicher nicht vor, zu Hause auszuziehen, weil ich ihr gesagt habe, dass ich den Wolf erschossen habe?«
»Nein … jedenfalls nicht direkt. Sie hat das Gefühl, ihren Vater nicht mehr zu kennen. In der Zeit, die Eliza hier in Tantanoola verbracht hat, hat sie erfahren, dass ihr Vater und ich früher ineinander verliebt waren, und nun ist sie davon überzeugt, dass er mich verlassen hat, nachdem ich durch den Unfall entstellt worden war.«
»Aber das stimmt doch nicht, oder?« Brodie konnte nicht glauben, dass Elizas Vater so oberflächlich sein sollte.
Tilly dachte über ihre Antwort nach. »Nein. Ich habe Richard verstoßen.«
»W eil Sie glaubten, er würde Sie weniger lieben, nachdem Sie den Unfall hatten?«
Zum ersten Mal gestattete sich Tilly, über Richard nachzudenken, ohne dass ihr Urteil von Angst und Verletztheit getrübt war. »Hätte ich damals in Ruhe darüber nachgedacht, hätte ich begriffen, dass unsere Liebe stark genug war, alles zu überstehen, und dass Richard mich geliebt hätte, egal, wie ich aussah. Aber ich konnte nicht über meinen eigenen Schmerz hinausschauen.«
»W as ist eigentlich passiert?«, fragte Brodie. »Das haben Sie mir nie erzählt.«
»Ich wurde in Millicent von der Postkutsche überfahren. Dabei wurde nicht nur mein Gesicht entstellt, ich habe mir auch mehrere Knochen gebrochen.«
Brodie beschloss, vorerst nicht weiter zu fragen, um keine alten Wunden aufzureißen, und wechselte das Thema. »W arum will Eliza nicht bei Ihnen wohnen? Weil die Zeitung ihre Redaktion in Mount Gambier hat?«
»Nein. Eliza glaubt, wenn sie hier ist, würde sie stets daran erinnert, was sie als Verrat ihres Vaters ansieht … und als Ihren Verrat.«
»Ich verstehe.« Brodies Miene verdüsterte sich. »Es tut mir leid, Matilda. Ich weiß, Sie hätten Eliza gern auf Dauer bei sich gehabt.«
»Ja, das hätte ich. Aber dass nichts daraus wird, ist nicht Ihre Schuld. Es ist niemandes Schuld.« Tilly seufzte. »Nein, das stimmt nicht ganz.« Zorn schlich sich in ihre Stimme. »Es liegt an meiner Schwester. Sie ist an allem
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