Im Schatten des Teebaums - Roman
schuld.«
Brodie war sicher, dass Tilly ihrer Schwester nie hatte verzeihen können, dass sie Richard geheiratet hatte. »W ollen Sie darüber reden?«, fragte er, als sie in die Auffahrt des Hanging Rocks Inn einbogen.
»George hat mir heute Morgen erzählt, dass Richard mit Henrietta nicht glücklich gewesen ist und dass er es bereut, sich damals nicht dagegen gewehrt zu haben, von mir verstoßen zu werden.«
»Meinen Sie denn, zwischen Richard und Ihnen hätte es anders sein können? Dass Sie beide glücklich gewesen wären?«
»Ja. Aber wir können die Vergangenheit nicht ändern. Es ist nur tragisch, dass Richard und ich die letzten zwei Jahrzehnte so unglücklich waren. Als ich erfuhr, dass er meine Schwester geheiratet hat, war ich lange Zeit wütend und verbittert. Später fühlte ich mich verletzt und verraten. Und danach habe ich Jahre damit verbracht, traurig und depressiv zu sein. Ich habe mein Leben vergeudet, Brodie, aber vielleicht ist das Leben der beiden auch nicht besser gewesen.«
»Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden«, sagte Brodie.
Tilly blickte ihn fragend an.
»W arum stellen Sie die beiden nicht zur Rede, Matilda?«
Tilly stockte der Atem. »Das könnte ich nicht«, sagte sie. Panik wallte in ihr auf.
»Doch, das können Sie, Matilda. Es könnte Ihre Wunden heilen. Die Wunden in Ihrem Innern, die für die Welt nicht sichtbar sind.«
Tilly schlug plötzlich das Herz bis zum Hals. »Ich bin noch nie mit dem Zug nach Mount Gambier gefahren. Und ich könnte all die Leute in der Stadt nicht ertragen, die mich gekannt haben. Sie würden mich anstarren und über mich flüstern.« Sie hatte nicht vergessen, wie es am Anfang gewesen war, als alle voller Neugier waren, und zugleich abgestoßen von ihrem Aussehen.
»Ich bringe Sie hin. Ich könnte einen geschlossenen Wagen mieten, dann sieht Sie niemand.«
Tilly blickte Brodie verwundert an. Sie hatte nie ernsthaft darüber nachgedacht. »Das würden Sie für mich tun?«
Er legte eine Hand auf ihre. »Ja, natürlich. Sie sind sehr gut zu mir gewesen, und wenn ich Ihre Freundlichkeit erwidern kann, würde ich die Gelegenheit gern nutzen.«
Tilly dachte fieberhaft nach. Der Gedanke, mit Henrietta endlich reinen Tisch zu machen, war verlockend, aber sie wollte nicht ihrer aller Leben durcheinanderbringen. »Inzwischen ist sehr viel Zeit verstrichen. Ich sollte die Dinge auf sich beruhen lassen, Brodie. Es hat keinen Sinn, in der Vergangenheit herumzustochern, vor allem nicht, wenn dadurch die Mädchen verletzt würden.«
»Sie müssen Eliza und Katie in diese Sache nicht hineinziehen, aber ich denke, Sie sollten Ihre Schwester und Richard damit konfrontieren. Ich bin sicher, dann würden Sie Ihren Frieden finden.«
»Dazu ist es zu spät«, flüsterte Tilly. »Es hätte vielleicht anders kommen können, wäre nicht schon so viel Zeit verstrichen.«
»Es ist nie zu spät, Matilda. Ich habe nie etwas so Schreckliches erlebt wie Sie, aber ich an Ihrer Stelle würde Henrietta zur Rede stellen. Für Elizas und Katies Leben muss sich dadurch gar nichts ändern. Aber Ihre Schwester sollte wissen, was Sie empfinden. Sie haben es ihr leicht gemacht, indem Sie sich in Tantanoola versteckt haben. Es stand ihr frei, Richard zu heiraten und Kinder mit ihm zu haben. Vielleicht ist es an der Zeit, sie mit der Vergangenheit zu konfrontieren und damit, was sie getan hat.«
Tilly dachte daran, was Henrietta ihr angetan hatte, ohne jemals zur Rechenschaft gezogen worden zu sein. Vielleicht hatte Brodie recht, und es war an der Zeit, dass sie sich der Wahrheit stellte. Aber sie wollte das Zuhause der Familie nicht zerstören. Das konnte sie Eliza nicht antun, selbst wenn das Mädchen nicht mehr bei den Eltern leben wollte. Es schmerzte Tilly, dass Eliza den Respekt vor ihrem Vater verloren hatte und sie, ihre Tante, für schwach hielt, weil sie sich von ihm so schändlich hatte behandeln lassen. Sie wollte nicht, dass Eliza mit einer Lüge und einem falschen Bild ihres Vaters lebte.
»Ich werde darüber nachdenken, Brodie. Aber jetzt sollten wir erst einmal diese nassen Kleider loswerden und in etwas Warmes und Trockenes schlüpfen.«
»Gehen Sie schon mal vor«, sagte Brodie und stieg vom Wagen. »Ich kümmere mich um die Pferde.«
Als der Zug in Mount Gambier einfuhr, wunderten sich George, Katie und Eliza, dass Henrietta auf dem Bahnsteig stand. Sie trug ihr bestes »T ageskostüm«, wie Katie und Eliza es nennen würden; deshalb
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