Im Schatten des Teebaums - Roman
»Zwanzig Jahre sind seit damals vergangen, aber ich kann mich immer noch nicht im Spiegel anschauen.«
»Ich sage die Wahrheit«, beharrte Eliza. »Es sind Vernarbungen, aber es ist keine Entstellung. Du musst einmal wunderschön gewesen sein, und du bist immer noch sehr attraktiv. Trotzdem kann ich verstehen, dass du gehemmt bist.«
Tilly verschlug es für einen Augenblick die Sprache angesichts dieser Direktheit. »Die Geschichte hat mich verändert, aber ich glaube, dass ich ein besserer Mensch geworden bin. Vor meinem Unfall brauchte ich nur mit den Wimpern zu klimpern, und schon konnte ich jeden um den Finger wickeln und bekam alles, was ich wollte. Aber seit ich mehr an andere Menschen als an mich denke …«
»W arum hast du dann …«
»Lass mich etwas klarstellen, Eliza«, fiel Tilly ihrer Nichte schroff ins Wort. »Ich will nicht über die Dinge von damals reden. Die Vergangenheit soll bleiben, wo sie hingehört, also wärme keine alten Geschichten auf. Entweder du hältst dich daran, oder du gehst wieder.«
Unbeeindruckt von Tillys Drohung erwiderte Eliza: »Entschuldige, aber es wird schwer sein, meine Familie nicht zu erwähnen, wenn ich hierbleibe.« Es würde vor allem schwer sein, ihre Neugier zu zügeln, wenn sie ehrlich war. Eliza fand es aufregend, ihre Tante auf diesem Weg kennen gelernt zu haben, und konnte es kaum erwarten, mehr über sie zu erfahren. Sie wusste allerdings, dass sie behutsam vorgehen musste, wollte sie es sich nicht mit Tilly verderben.
»Du kannst meinetwegen von deiner Familie erzählen, aber du wirst keine Fragen stellen!«, verlangte Tilly streng.
Das konnte Eliza ihr nicht versprechen. »Darf ich … darf ich Tante zu dir sagen?«
Tillys Augen wurden sanft. »Natürlich«, sagte sie beinahe verlegen, drehte sich um und ging in die Küche zurück, während Eliza ihren Koffer aufklappte und sich daranmachte, ihre Sachen auszupacken.
Als Tilly den Tee eingeschenkt und Eliza sich zu ihr gesetzt hatte, fragte die Tante, was sie über den Tiger von Tantanoola wisse.
»Nur, was ich in der Border Watch gelesen habe«, antwortete Eliza. »Hast du ihn denn jemals zu Gesicht bekommen?«, fragte sie gespannt.
Tilly schüttelte den Kopf. »Nein, nie. Ehrlich gesagt bin ich nicht einmal sicher, ob er wirklich existiert. Tatsache ist, dass etliche Schafe gerissen wurden, aber in einer kleinen Stadt verbreiten sich solche Geschichten in Windeseile, und jeder dichtet noch etwas dazu.«
»Aber irgendjemand muss doch ein Tier gesehen haben, das wie ein Tiger aussieht, sonst wären diese Geschichten nie entstanden«, gab Eliza zu bedenken.
»Ich weiß nicht, ob man Mannie Boyds Worten Glauben schenken darf«, erwiderte Tilly zweifelnd. »Andererseits … Jock Milligan hatte am selben Tag angeblich auch etwas beobachtet, und Jock ist ein angesehener Einwohner der Stadt.«
»Das hört sich an, als würdest du nicht viel von diesem Mannie Boyd halten.«
»Na ja, ich zähle nicht gerade zu seinen Verehrerinnen«, bemerkte Tilly trocken. »Er trinkt zu viel und fängt dann Streit an. Ständig ist er in eine Rauferei verwickelt. Aber abgesehen davon ist er harmlos.«
»Ist er Farmer?«
»Um Gottes willen, nein! Er lebt vom Verkauf von Kaninchenfellen. Mehr schlecht als recht, wie mir scheint, zumal er ein Spieler ist und viel Geld am Spieltisch verliert, wie ich gehört habe.«
»Und er hat den Tiger, oder was immer es war, zuerst gesehen?«
»Soviel ich weiß, ja. Mary Corcoran erzählte mir, Mannie sei völlig aufgelöst in die Bar gestürzt und hätte nach einem Doppelten verlangt. Was immer er gesehen hat, muss ihm einen ganz schönen Schrecken eingejagt haben.«
»W o finde ich diesen Mannie?« Eliza griff nach ihrem Notizbuch.
Tilly beschrieb ihr den Weg zu Mannies Hütte in der Nähe des Postamts.
»Gehst du normalerweise zu Fuß in die Stadt?«, fragte Eliza, der dieser Gedanke nicht sonderlich behagte.
»Mich zieht es nicht oft dorthin, aber wenn, gehe ich meistens zu Fuß, ja. Ich habe zwar eine Stute, aber sie ist schon alt und kaum noch zu einer schnelleren Gangart zu bewegen. Sie gehörte dem Vorbesitzer des Gasthauses und diente als Zugpferd. Ich hab ’ s nicht übers Herz gebracht, sie zu verkaufen, zumal es hier genug zu fressen für sie gibt.«
»Seit wann gehört dir das Hanging Rocks Inn?«
Tilly zögerte. Sie sprach nicht gern über sich, und zu viele Fragen machten sie misstrauisch. »Noch nicht so lange. Aber ich habe hier viele Jahre nach dem
Weitere Kostenlose Bücher