Im Schatten des Teebaums - Roman
wiederzuerlangen. Dann öffnete sie die unterste Schublade ihrer Kommode, schob ein paar Stricksachen beiseite und holte ein kleines Gemälde hervor. Sie entfernte das braune Papier, in das es eingeschlagen war. Das Bild war von einem Schulfreund gemalt worden, einem Künstler namens Vincent Borlaise. Tilly hatte seit Jahren nicht mehr an ihn gedacht. Schon auf der Schule war Vincent eine schillernde Persönlichkeit gewesen, ein übermütiger französischer Junge, der gern abenteuerlich bunte Kleidung trug. In der Stadt ging das Gerücht, seine Mutter sei Varietétänzerin im Moulin Rouge gewesen. Sein Vater war Bildhauer, Vincents jüngere Schwester hatte Schauspielerin werden wollen.
So hatte es niemanden verwundert, dass die Familie Borlaise nicht auf dem Lande blieb, sondern bald nach Vincents Schulabschluss nach Sydney gezogen war, wo Vincent und sein Vater eine Galerie eröffnen wollten. Vincent, so hieß es, sei inzwischen ein erfolgreicher und anerkannter Künstler geworden.
Das Gemälde war ein sehr schönes Porträt von Tilly und Richard. Vincent war es gelungen, auf der Leinwand das Glück und die Liebe festzuhalten, die sie füreinander empfanden; ihre Gefühle waren deutlich in ihren Augen zu sehen. Tilly hatte es jahrelang nicht vermocht, sich das Gemälde anzuschauen. Jetzt, während sie in Richards markantes Gesicht blickte, kamen mit Macht die Erinnerungen; alte Gefühle erwachten mit einem Mal wieder zum Leben und versetzten Tilly zwanzig Jahre zurück in die Vergangenheit. Richard aufzugeben war die schlimmste und bitterste Entscheidung ihres Lebens gewesen, doch sie hätte es nicht ertragen können, das Mitleid in seinen Augen zu sehen, wenn er ihre Narben sah. Eher wäre sie durchs Feuer gegangen.
Ein Gefühl der Trauer um ihre verlorene Schönheit überkam sie und verursachte einen quälenden Schmerz in ihrer Brust. Auf dem Gemälde sah ihre Haut so makellos aus wie Porzellan, und sie strahlte vor Lebenskraft …
Tilly trat an den Frisiertisch und hob langsam das Tuch an, das den Spiegel verhüllte. Auf den ersten Blick sah sie fast normal aus. Tilly berührte die eine Seite ihres Gesichts nicht gern, es fühlte sich seltsam uneben an. Es blieb eine ständige Erinnerung an die Verletzungen, die sie erlitten hatte. Tilly hatte sich den Kiefer, das Schlüsselbein und den Arm gebrochen, aber das alles war im Laufe der Zeit verheilt. Der emotionale Schaden und die Narben jedoch würden sie immer begleiten.
Zaghaft steckte Tilly sich das Haar hinter die Ohren. Sie schluchzte auf. Warum war ihr etwas so Fürchterliches zugestoßen?
George, der auf dem Weg zu seinem Zimmer gerade an Tillys Tür vorüberging, hörte ihr Schluchzen. Er erschrak. Was war passiert? Ohne nachzudenken, klopfte er an Tillys Tür und öffnete sie.
Tilly löschte rasch das Licht.
»Matilda? Was ist los?« Im Dunkeln konnte er kaum etwas erkennen. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja«, stieß sie kurz angebunden aus. »Lass mich bitte allein. Gute Nacht.«
George schwieg einen Augenblick verwirrt. »Bist du sicher? Ich dachte, ich hätte dich weinen hören.«
»Es ist nichts. Mach bitte die Tür zu, George.«
»Es tut mir leid, wenn ich dich vorhin aus der Fassung gebracht habe, Matilda.«
Tilly seufzte. »Das hast du nicht, George. Du hast mich nur an ein anderes Leben erinnert, das ich einmal geführt habe … ein Leben, zu dem ich nie mehr zurückkehren kann.«
»W ir haben alle einmal ein Leben geführt, zu dem wir nicht zurückkehren können, Matilda.« George wollte noch etwas hinzufügen, beschloss dann aber, es nicht zu tun. »Gute Nacht!», sagte George sanft und schloss behutsam die Tür.
Allein im Dunkeln, dachte Matilda über Georges Worte nach. Auf einmal schämte sie sich dafür, so selbstmitleidig zu sein.
Als Matilda am nächsten Morgen aufstand, saß George bereits am Küchentisch und trank Tee.
»Guten Morgen«, sagte sie, verwundert, ihn zu sehen, da sie immer sehr früh auf den Beinen war. »Konntest du nicht schlafen?«
»Ich schlafe schon seit Jahren nicht mehr gut«, gab George zu.
»W arum nicht?«
»Man kann sich nur schwer daran gewöhnen, allein zu schlafen, wenn man verheiratet war.« Die Worte waren George herausgerutscht, ehe er sich bremsen konnte, und er begriff augenblicklich, dass er schon wieder ins Fettnäpfchen getreten war. »T ut mir leid …«, fügte er hastig hinzu.
»W as sollte dir leidtun, George? Ich bin diejenige, die sich entschuldigen sollte. Du hast verloren,
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