Im Schatten des Vaters
können, aber der Geruch war so schwach geworden, dass er von der Phantasie nicht zu unterscheiden war. An kalten Tagen, wenn er verflogen schien, ging Jim durch die Räume und versuchte sich an ihn zu erinnern. Auch draußen, wenn er durch den Wald lief, roch er ihn manchmal, hielt inne und dachte an seinen Sohn. Er redete sich ein, nur noch in diesen Momenten an seinen Sohn zu denken, als wäre einzig diese eine Erinnerung stark genug, aber das stimmte natürlich nicht. Auf die ein oder andere Weise dachte er immer an Roy. Sonst gab es sehr wenig zu tun. Er hatte sich auf den Winter eingerichtet und wartete.
Es schien Jim, als habe er Roy nicht besonders gut eingeschätzt. Wie es schien, war Roy gefährlicher gewesen, als Jim gedacht hatte. Als habe er all die Jahre vorgehabt, sich umzubringen, und nur auf den passenden Augenblick gewartet. Das war wohl nicht sehr zutreffend, aber Jim hielt eine Weile an diesem Gedanken fest. Was, wenn der Selbstmord von vornherein in Roy angelegt gewesen war? Was dann? Das würde zumindest die Verantwortung verlagern. Und warum brachte man sich überhaupt um? Weshalb war Jim so davon überzeugt gewesen, dass er dazu fähig wäre? Das war jetzt schwer nachzuvollziehen. Es kostete Mühe, diesem Gedanken zu folgen. Jim glaubte nicht, dass er je wirklich zum Selbstmord geneigt hatte, nicht einmal, als er beschlossen hatte, vom Kliff zu springen. Selbst da hatte er bloß Selbstmitleid empfunden, mehr nicht.
Bei diesem Gedanken stockte Jim. Er hatte eine Weile nicht ans Kliff gedacht. Er fragte sich, was Roy davon gehalten hatte, fragte sich, ob Roy gewusst hatte, dass es Absicht gewesen war. Er hatte nie wirklich zugegeben, dass es Absicht gewesen war. Sonst wäre es schwieriger gewesen, Roy zum Bleiben zu bewegen. Aber Roy musste einen Verdacht gehegt haben.
Jim schüttelte diese Gedanken ab. Er erfand Ablenkungen. Er versuchte sich vorzustellen, wer ihn finden und wie und was er sagen würde. Das hausbackene Paar mit seinen Kindern im Schlepptau. Sie würden stehenbleiben, ihn ansehen und für gefährlich halten. Vielleicht wegrennen. Vielleicht würden sie wieder gehen, bevor er sie überhaupt zu Gesicht bekam, und er würde es erst merken, wenn die Polizei eintraf. Aber vermutlich würden sie ihn eher auf der Stelle empört angehen. Sie waren die Besitzer und fanden sonst bestimmt nicht viel Beachtung, daher würden sie hier hart durchgreifen. Ihn hinausschleifen und mit ihren Papageienschnäbeln und schiefen Augen attackieren und hacken und reißen, bis sie kleine Stücke ergatterten. Da dachte er an Roy am Strand und an die Möwen, und so quälte er sich Tag und Nacht unter dem Vorwand, sich die Zeit zu vertreiben und zu überleben.
Er hielt noch immer nach Booten Ausschau, an schönen Tagen. Die wenigen, die er entdeckte, waren zu weit weg. Er hatte keine Leuchtmunition. Ihm war der Gedanke gekommen, dass er versuchen könnte, einen riesigen Waldbrand zu legen, der zumindest Erkundungsflugzeuge anlocken würde, aber er wusste nicht, wie lange die brauchten oder ob er in den Flammen umkommen würde. Sein eigener Tod schien wahrscheinlich, wenn er auf einer Insel einen Waldbrand entfachte. Am Ende wäre er im Wasser und würde nach Luftringen. Und die Vorstellung, dass Löschmannschaften die Erde umgruben, in der Roy lag, behagte ihm auch nicht.
Dann dachte er daran, eine andere Insel in Brand zu stecken, sollte er in der Nähe eine kleine, unbewohnte finden. Er könnte hinüberrudern, mit dem bisschen Sprit, das er übrig hatte, nachhelfen und zurückrudern oder einfach auf dem Wasser bleiben, wo sie ihn sehen könnten.
Keine schlechte Idee, sagte er sich. Das könnte klappen.
Aber er tat nichts. In diesen Gewässern herumzurudern, war nicht einfach, und er war noch nicht so weit, jemandem gegenüberzutreten. Also wartete er in seiner Hütte und schmiedete Pläne und sah die Flammen überall und sich selbst gerettet und versuchte, sich zu erinnern, wie Roy ausgesehen hatte, bevor er sich das halbe Gesicht weggeschossen hatte. Es war schrecklich, dass Roy Jim mit diesem Bild zurückgelassen hatte. Jim konnte sich an das alte Gesicht nicht erinnern, daran, wie sein Sohn ausgesehen hatte. Als wäre sein Sohn verstümmelt auf die Welt gekommen.
Wenigstens brauchte ihn sonst keiner so zu sehen. So viel Zeit war verstrichen, dass sonst keiner überhaupt etwas zu sehen brauchte. Das war eine gewisse Erleichterung. Er konnte nicht erklären, weshalb Roys Anblick ihn persönlich
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