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Im Schatten des Vaters

Im Schatten des Vaters

Titel: Im Schatten des Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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und Kriechtiere in diesem Haufen, die sich wahrscheinlich in diesem Moment durch seine Kleider vorarbeiteten.
    Die Tage verstrichen, einer war wie der andere. Es war eine ungeheuer lange Insel. Wäre er sicher gewesen, seine Hütte zu finden, er wäre einfach quer rübergelaufen, weil er inzwischen wusste, dass hier niemand lebte, aber er wusste nicht, wie breit die Insel war und ob er den Strand auf der anderen Seite wiedererkennen würde, selbst wenn es der Küstenstreifen war, den er bereits abgelaufen hatte. Also wanderte er weiter, die ganzen kurzen Tage lang, und wartete, eher wachend als schlafend, die Nächte ab.
    In diesen Nächten dachte er an Roy, erinnerte sich an den kleinen Jungen, der in Ketchikan einen grünen Spielzeugtraktor gefahren und im Alter von drei Jahren mit Kochmütze auf dem Kopf auf einem Hocker gestanden hatte, um an die Rührschüssel zu kommen. Er erinnerte sich, wie Roy in seiner roten Jacke Heidelbeeren gepflückt, wie er Eiszapfen abgeschlagen und das Geweih gefunden hatte. Jim hatte es über den Zaun geworfen, weil es so klein war, und Roy hatte es entdeckt und wie den Kultgegenstand eines fremden Volkes gehütet. Geheimnisvoll und wunderbar war es ihm vorgekommen. Jim verstand nicht, wie daraus die letzten gemeinsamen Jahre mit Roy geworden waren, verstand die Umwälzungen nicht, und begriff erst jetzt in der Erinnerung, dass er Jahre von Roys Leben verpasst hatte, selbst in Ketchikan, als sie noch alle zusammenlebten, weil Jim an andere Frauen dachte, berechnend, bereits auf Abwegen. Er hatte sich ins Doppelleben mit anderen Frauen gestürzt und nichtsund niemanden sonst wahrgenommen. Nach der Scheidung war er noch immer nicht aufgewacht, sondern weiter den Frauen nachgejagt. Insofern konnte er am Ende nicht sagen, wer Roy eigentlich war. Ihm fehlten zu viele Jahre seines Lebens.
    Jim dachte über all das jetzt gefasster nach, als könnte er sich den Aufwand des Weinens nicht leisten, solange er versuchte, einfach nur warm zu bleiben und diese Nächte zu überleben. Da war ein solcher Luxus nicht drin. Wenn er bis zum Frühling überleben wollte, musste er sparsam wirtschaften.
    Tagsüber versuchte er, voranzukommen, aber seine Schritte wurden immer langsamer. Schon vor einer knappen Woche war ihm der Proviant ausgegangen, und jetzt lebte er von Algen und Pilzen und kleinen Krebsen, die er bei Ebbe fing. Er trank, wenn er mal einen Bach überquerte, hatte aber oft tagelang Durst.
    Die Krebse waren eigentlich sehr gut, auf die freute er sich. Sie waren bloß acht bis zehn Zentimenter breit, aber er nahm sie aus wie die größeren auch, packte all ihre Gliederbeine von hinten und schlug den Kopf so lange auf einen spitzen Stein, bis die Schale absprang. Dann brach er den Krebs entzwei, schüttelte die Innereien ab, spülte das Tier im Meerwasser und schlürfte das zarte, saubere Fleisch. Das machte er den ganzen Tag über, aß vier, fünf Krebse auf einmal. Schlimm wurde es eigentlich nur, wenn er tagelang nicht genug Frischwasser fand, die Lippen anschwollen und der Hals schmerzte. Morgens an Kiefernadeln zu saugen, brachte ein wenig Erleichterung, und häufig regnete es auch. Zum Glück lag kein Schnee. Das Wetter meinte es sehr gut mit ihm.
    Er verlor sich in Träumen vom Südpazifik, davon, aus fremdartigen großen Blättern Wasser zu trinken und Früchtezu essen, die überall wuchsen. Mangos, Guaven, Kokosnüsse und wilde Früchte, die er noch nie gesehen hatte. Letztere waren in seiner Vorstellung violett und sehr süß. Die Sonne schiene unaufhörlich, und er würde unter Wasserfällen baden.
    Eines Abends sah er im Westen einen Streifen Sonnenuntergang und wusste, dass er die Südspitze der Insel umrundet hatte. Jetzt befand er sich auf dem Heimweg. Er ging weiter um die Bucht herum, setzte sich zwischen die Bäume und betrachtete den schmalen Sonnenuntergang, der von wässrigen grauen Wolken verschlungen wurde. Dann scharrte er Strauchwerk zusammen, schlüpfte in den Bau und schlief.
    Fünf Tage später erreichte er die Hütte. Er kam recht früh am Morgen an, nachdem er die Nacht knapp eine Meile entfernt geschlafen hatte. Scheiße, sagte er. Hier ist sie schon. Er stand eine Weile am Strand und blickte durch die Bäume auf die Hütte.
    Sobald er auf die Veranda trat, wurde ihm klar, dass niemand hier gewesen war. Alles war genauso, wie er es zurückgelassen hatte. Die Nachricht war vom Regen verschliert und ausgeblichen, aber das war die einzige Veränderung. Er ging ums

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