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Im Schatten des Vaters

Im Schatten des Vaters

Titel: Im Schatten des Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Haus, um den Hammer zu holen. Das schlaffe Schlauchboot war noch da, die zerbrochene Schuppentür, keine Veränderung.
    Jim zog die Nägel aus den Brettern vor dem Küchenfenster und roch Roy, noch bevor er das erste Brett überhaupt entfernt hatte. Drinnen hing der Geruch dicht und schwer. Jim übergab sich gleich auf den Küchenboden, spuckte seine paar kostbaren Krebse und Pilze aus sowie Frischwasser, den Tau von gestern. Es schien eine furchtbare Verschwendung, auch wenn er wusste, dass er jetzt besseres Essen und Wasser bekam.
    Er wusch sich am Küchenbecken und spülte den Mund aus. Der Gestank war erdrückend. In der Küche konnte Jim ganz gut sehen, aber die hinteren Räume würden dunkel sein, also entzündete er die Petroleumlampe und stemmte sich auf dem Weg nach hinten gegen den Geruch wie gegen einen starken Wind.
    Roy war nicht mehr so steif wie vorher. Der Schlafsack lag jetzt auf dem Fußboden und war nass, und weißer Flaum wuchs selbst auf der Außenhaut. Jim versuchte, das Ende des Schlafsacks zu greifen, wich aber zurück. Es tut mir leid, Roy, sagte er und weinte seit längerer Zeit zum ersten Mal. Nun würde er ihn begraben müssen. Er hatte versucht, jemanden zu finden, hatte versucht, einen Weg zu finden, um ihn seiner Mutter und seiner Schwester zu zeigen und ihn zu bestatten, aber jetzt würde er ihn auf der Insel begraben müssen. Er hatte keine andere Wahl. Er konnte nicht mit diesem Geruch leben, konnte seinen Sohn nicht einfach hier verrotten lassen.
    Erst mal musste er wieder raus, um Luft zu schöpfen. Er wartete auch, bis das Weinen aufhörte, dann ging er schnell wieder hinein, packte den nassen Sack und schleifte ihn zum Fenster. Als er ihn hindurchbugsierte, wurde der Inhalt zusammengemanscht, und ein bisschen von Roy sickerte durch die Risse im Schlafsack. Jim grunzte angewidert. Er konnte nicht fassen, was er da zu tun hatte.
    Er nahm eine Schaufel und schleppte Roy weit in den Wald hinein. Er wollte ihn nicht zu nah an der Hütte haben, wollte Roys Grab nicht so nah haben, weil diese Leute ihn sonst vielleicht verlegen würden. Er ging so weit in den Wald, dass man Roy nicht finden würde, dann blieb er stehen und fing an zu graben. Die erste Handbreit Erde war hart, die zweite locker, bis er auf Stein, Wurzeln und Sand traf; das Grabenwar mühsam. Er schuftete den ganzen Tag, stach und schnitt Wurzeln, grub um Felsen herum und hackte sich mit der Schaufelspitze durch.
    Er musste häufig verschnaufen und entfernte sich jedes Mal von der Grube und dem furchtbaren Geruch seines verwesenden Sohnes. Er setzte sich rund hundert Meter weiter und überlegte, wie er das alles erzählen würde. Er war sich nicht sicher, ob die Geschichte plausibel wäre. Jeder Schritt hatte sich zwangsläufig aus dem anderen ergeben, nur sahen die einzelnen Schritte nicht gut aus. Auch wenn er es sich nicht recht eingestehen mochte, ein Teil von ihm wünschte sich, niemals gefunden zu werden. Wenn keiner je zu dieser Hütte zurückkehrte oder nach ihnen suchte, müsste er die Geschichte nicht erzählen. Ihm war, als könnte er inzwischen mit dem leben, was passiert war, wenn er nur niemandem unter die Augen treten musste. Sein Sohn hatte sich umgebracht, und das war Jims Schuld, und jetzt begrub er seinen Sohn. Er konnte das glauben. Aber sonst sollte es keiner wissen.
    Er schaufelte bis in den späten Nachmittag, fast bis zum Ende des Tages, und fand dann, das müsse reichen, denn im Dunkeln konnte er nicht weitermachen, also schleifte er Roy mitsamt dem Schlafsack in die Grube, weil er den Schlafsack nicht leeren wollte, stand da und fragte sich, wie er wohl in den wenigen Minuten, bevor er Erde hinabwarf und in die Hütte zurückkehrte, eine Beerdigung durchführen könne.
    Ich wollte das nicht überstürzen, sagte er zu seinem Sohn. Ich weiß, das ist deine Beerdigung. Das sollte etwas Besonderes sein, und deine Mutter sollte dabei sein, aber daran kann ich jetzt einfach überhaupt nichts ändern. Ich bin einfach . . . Und hier stockte er und wusste nicht weiter. Er konnte nur denken, Ich liebe dich, du bist mein Sohn, aber das setzte ihm so zu, dass er nicht mehr sprechen konnte, also schaufelte erweinend Erde, häufte sie auf und trat sie fest und ging beinahe im Dunkeln zur Hütte und scherte sich kaum mehr darum, ob er sich verlief.
    Der Geruch von Roy hing in dieser Nacht noch im Haus, auch am nächsten Tag und Spuren davon die ganze Woche über. Danach meinte Jim, ihn immer noch riechen zu

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